Der Gott-Vater und seine Kinder

Mit Gertrud Fussenegger eine Reise zurück in die Vergangenheit

Von Heike NiederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Nieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Atlas war schon ein armer Junge. Zuerst zofft sich der Unglückliche mit Zeus und dann soll er nach seiner Kampfesniederlage auch noch ewig Buße tun: Bei den alten Griechen war Atlas der Titan, der nach dem Streit mit dem Göttervater für immer den Himmel stützen musste. Doch wer glaubt, die Leiden des Atlas hätten mit dem Untergang der antiken Welt ein Ende gehabt, der irrt sich. Knapp 2000 Jahre danach muss der Ärmste wieder ran - und diesmal gleich im Doppelpack: In Gertrud Fusseneggers neustem Roman "Bourdanins Kinder" stemmen zwei steinerne Atlanten den Balkon der bürgerlichen Familie Bourdanin im altösterreichischen Pilsen. Doch einen Himmel tragen sie hier freilich nicht, obgleich im "Haus der Atlanten" auch ein Herrscher sitzt: Der pensionierte Rittmeister Balthasar Bourdanin, der seinerzeit, im ehrwürdigen Jahre 1859, in Solferino für "Kaiser, Vaterland und Ehre" gekämpft hat, will seine sechs Kinder "nach [seinem] Bilde formen", als eine Art Gott, der alles entscheidet, und dem Demut zu zollen ist. Und in der Tat: Bourdanin bestimmt das Schicksal seiner gesamten Familie.

Gertrud Fussenegger schrieb als promovierte Historikerin schon früh Erzählungen mit geschichtlichem Hintergrund: 1937 veröffentlichte die damals 25jährige ihren ersten Roman "Geschlecht im Advent", dessen Handlung im Südtirol des 9. und 10. Jahrhunderts spielt. Im selben Jahr erschien die "Mohrenlegende", in der Fussenegger die Zeit der Kreuzzüge wieder aufleben lässt. Anfang der 50er Jahre reicht ihre Anerkennung schon fast an die eines Thomas Mann: Ihr 1951 herausgekommener Roman "Das Haus der dunklen Krüge" geht als die "Böhmischen Buddenbrooks" in die Literaturgeschichte ein.

Jetzt, 50 Jahre nach dem Erscheinen des Erfolgsromans, wagte sich Fussenegger an seine Fortsetzung - und sie ist gelungen. Fesselnd erzählt die Autorin in "Bourdanins Kinder" das Geschick der Nachkommen des alten Rittmeisters. Ort des Geschehens ist Pilsen, wo Fussenegger selbst 1912 als Tochter eines k. u. k. -Hauptmanns geboren wurde. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ihre Erzählung so glaubwürdig wirkt, so real, so echt. Wer das Buch in die Hand nimmt, hat sie herbeibeordert, die Zeitmaschine, und wer darin liest, ist eingestiegen.

Also, nichts wie los: Auf in das Pilsen der Jahrhundertwende, in das Pilsen der Väter und Großväter der Autorin! Denn die Geschichte, die sie erzählt, könnte ihre eigene sein.

Balthasar Bourdanin lebt mit seiner Frau Marie und seinen sechs Kindern Balthasar, Margarete, Roderich, Kläre, Friedrich und Luise als angesehener Bürger im "Haus der Atlanten" in Pilsen. Das wichtigste für den alten Rittmeister ist die Ehre der Familie und seine größte Angst besteht darin, dass eines der Kinder "daneben geraten könnte". Deshalb begegnet er ihnen mit rigoroser Strenge und verlangt vor allem eins: Gehorsam. Damit die Kinder auch in Zukunft den guten Namen der Familie nicht in Verruf bringen, macht sich der Vater früh Gedanken über ihre Ausbildung: Die Söhne sollen in seine Fußstapfen treten und eine Karriere beim Militär anstreben, die Töchter auf einer Klosterschule den einzig ehrbaren Beruf einer Frau lernen - den der Lehrerin. Alle bis auf eine gehen den Weg, den ihnen der Vater gewiesen hat: Nur Luise möchte keine Lehrerin werden, sondern ihr Leben der Musik widmen. Doch durch unglückliche Umstände wird sie zum Abbruch des geliebten Studiums gezwungen. Der Arzt, der ihre Herzkrankheit einst behandelt hatte, zeigt sich zufrieden: "Die Großstadt ist nichts für Sie und ein Studium schon gar nicht. Bleiben Sie hübsch daheim bei ihren Eltern und freuen Sie sich, dass Sie leben. Älter als achtundvierzig werden Sie sowieso nicht." Merkwürdig: Der Arzt wird recht behalten.

Überhaupt, die Orakel. In dem Roman werden einige gegeben, und eigentümlicherweise erfüllt sich ein jedes: Ein Gesellschaftsspiel sagt das Schicksal des ältesten Sohnes Balthasar voraus, Dorfbewohner fürchten abergläubisch die Drachenmauer, hinter der die zukünftigen Ehefrauen Roderichs und Friedrichs aufwachsen. Und sonderbar: Die Ehen werden scheitern.

So scheint das Leben der Kinder vorherbestimmt, in jedem Fall durch den Vater, in einigen Fällen durch die fast transzendenten Vorhersagen.

Doch nicht nur Kinder, auch Enkel werden dem Rittmeister geboren. Und siehe da: Die kleine Enkeltochter Eggi Preinfalk schafft es, des Alten Herz zu gewinnen. Und als Gott-Vater Bourdanin kurz vor seinem Tod die gesamte Familie zu seinem letzten Abendmahl herbei befiehlt, ist auch Eggi mit von der Partie. Nach dem Tod des Großvaters bekommt sie seinen behütetsten Schatz: Eine Kiste mit leeren Büchern, Bleistiften und Radiergummis. Die Neunjährige ist entzückt über die Erbschaft und verkündet triumphierend: "Alle eure Geschichten werd ich erzählen und niederschreiben." Die Verwandten lachen, doch sie, Eggi, hat es versprochen. Sie will sie aufschreiben, die Geschichte ihrer Familie, die Geschichte der Familie Bourdanin aus Pilsen. Und hier, in Pilsen, hat auch Eggi das Licht der Welt erblickt - genau wie Gertrud Fussenegger selbst - im Jahre 1912. Zufall?

Ob sich Gertrud Fussenegger nun mit Eggi identifiziert oder nicht - Tatsache ist: Die Erzählperspektiven scheinen zu verschmelzen. Manchmal ist klar, dass die Enkelin spricht - zum Beispiel wenn Eggi, von der sonst nur in der dritten Person die Rede ist, hin und wieder in der "Ich"-Form vom Großvater redet - an anderen Stellen muss es aber die allwissende Autorin sein - denn wie wäre es möglich, dass Eggi die Gedanken und Gefühle aller Personen genau kennt?

Wie dem auch sei: Der Spannung tut die unklare Erzählperspektive keinen Abbruch. Nur schwer gelingt es, sich von der Geschichte loszureißen, nur widerwillig ist man bereit, mit der Zeitmaschine wieder in die Gegenwart aufzubrechen.

"Nichts wird bewahrt außer durch Verwandlung" - mit "Bourdanins Kinder" hat Gertrud Fussenegger ein Geschichtsbuch geschrieben, das packender nicht hätte sein können. Historische Fakten verpackt als Familienroman - das ist Vergangenheit zum Anfassen, hier besteht für jeden Leser die Möglichkeit, zur Identifikation und somit zur Zeitreise.

Auch die steinernen Atlanten haben einen Zeitsprung hinter sich: Geboren in der Antike stützen sie 2000 Jahre später den Balkon des bürgerlichen Rittmeisterhauses. Als stumme Zeugen nehmen sie Teil am Leben der Familie Bourdanin aus Pilsen - genau wie der Leser.

Titelbild

Gertrud Fussenegger: Bourdanins Kinder.
Buchverlage LangenMüllerHerbig, München 2001.
380 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3784428274

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