Poesie der Atempause

Jehuda Amichais Gedichtband "Zeit”

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Land gilt er als moralische Autorität. Er ist Lyriker. Der israelische Premier Benjamin Nethanyahu zitierte ihn in der Knesset, Yitzhak Rabin bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo.

Der Ort, an dem wir recht haben

An dem Ort, an dem wir recht haben,

werden niemals Blumen wachsen

im Frühjahr.

Der Ort, an dem wir recht haben,

ist zertrampelt und hart

wie ein Hof.

Zweifel und Liebe aber

lockern die Welt auf

wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.

Und ein Flüstern wird hörbar

an dem Ort, wo das Haus stand,

das zerstört wurde.

Dieses Gedicht von Jehuda Amichai wurde von Israels Oberstem Gerichtshof in einer Urteilsbegründung zitiert, als es darum ging, gegenüber abstraktem Recht auch die Stimme der Menschlichkeit sprechen zu lassen. Der vielgelesene Dichter wurde 1924 in Würzburg geboren, emigrierte 1935 mit seiner orthodoxen Familie nach Palästina, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der "Jewish Brigade", war Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg und den drei folgenden Kriegen, danach Lehrer, später Professor für hebräische Literatur. Seit 1937 lebt Amichai als Lyriker, Erzähler und Dramatiker in Jerusalem.

Der in über 30 Sprachen übersetzte Autor ist erst verspätet, seit 10 Jahren, in deutschen Übersetzungen bei Piper präsent. Der Klassiker der modernen hebräischen Poesie nach 1948, Stimme des modernen Israel, wird in dem Gedichtband "Zeit" als zeitloser Dichter präsentiert. Der Band bietet kein Verzeichnis von Amichais Originalpublikationen, nicht einmal ein Quellenverzeichnis der Auswahl, die im Klappentext als Sammlung und als Zyklus bezeichnet wird. Die umfangreichste Abteilung des Bandes ist mit "Die Zeit" überschrieben. Das hat aber nichts mit dem gleichnamigen Originalzyklus Amichais zu tun hat, sondern nennt nur "das denkbar weiteste Thema".

In den hier zusammengestellten Gedichten ist wenig von Israel als modernem Staat und seinen politischen Problemen, von Orten und Zeitpunkten die Rede. Auch wenn vom Telefon und von Spähflugzeugen gesprochen wird, wenn die Judenvernichtung und die Geschichte des Staates Israel in Implikationen aufgerufen werden, dominieren ahistorische Situationen und zeitlos-menschliche Konstellationen.

Viele der Gedichte sind modellhafte Versuche, den Sehnsüchten und Lebenserfahrungen des lyrischen Sprechers eine Gestalt zu verleihen - bei aller Brüchigkeit, in allem Zweifel. Einmal will das Individuum sich nicht als Einzelwesen, als ein Baum, ein einziges, mächtiges Zeichen definieren: "Sondern wie Regen sein an vielen Orten, / aus vielen Wolken, einsickern, getrunken sein / von vielen Mündern, geatmet sein / wie die Luft im Jahr, verstreut sein wie das Blühen im Frühling." Ein anderes Mal bleibt es lieber isoliert: "Ich bin wie ein Blatt, das seine Grenzen kennt, / das sich nicht ausbreiten, nicht aufgehen will / in die Natur, nicht fließen will in die große Welt." Die entworfenen Situationen sind fast immer ambivalent und defizitär, ihre Konstruktion gelingt dem poetischen Sprecher allzu problemlos. Der Gestus ist befragend und bewahrend zugleich. Retrospektive und poetische Verallgemeinerung überwiegen. Das Ich installiert sich in den Gedichten als "Tauschmarkt", "Grenzstation" und "Wegkreuzung", als Kontaktmann zu "allen Dingen" und den "Problemen der Welt".

Amichai gebraucht wenige Worte, die er in Variationen ausbreitet und umschreibt: Liebe und Krieg, Mutter und Geliebte, Vater und Generationen, Gott und Welt. Er mischt Alltagsvokabeln mit religiösem Sprechen, scheinbar privaten und kunstlosen Ton mit poetischer Erhabenheit und exotisch anmutender Archaik. Amichais Sprechen nivelliert geltende Werte; der Selbstverständlichkeit der Welt begegnet es mit erhöhendem, zurückgenommenen Liebes- und Verlustpathos. Dieses Pathos findet im Alltäglichen seine Gegenstände, die existenzielle Fragen nach dem Lebensweg und der Aufhebung des Lebens evozieren. Einleuchtend wirkt Amichais Festhalten an der Kindheit; berührend oft auch die Nuancen und Abgründe der wieder und wieder beschworenen, vergangenen und verlorenen, vergeblichen und erfüllten Liebe.

Die Gedankenbilder überraschen selten und meist nur auf den ersten Blick. Die in ihnen ausgesprochenen widersprüchlichen Lebenserfahrungen und die unausgeglichene Lebensbilanz können mit der Zustimmung des Lesers rechnen. Manchmal münden sie in eine Vision oder Botschaft, etwa dergestalt, daß durch das unermüdliche Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen und von Pflugscharen zu Schwertern das "Zankeisen" eines Tages vielleicht aus der Welt geschafft werde. Ist dieses Bild schwach, weil es Krieg und Konflikt nur in paradoxem Zusammenhang, in utopischer Vorstellung darstellt? Oder ist das Bild stark, weil es das Schwanken zwischen Resignation und Hoffnung als paradoxe Versinnlichung des Um-Schmiedens inszeniert? Wirken Bibelworte und Schmiede auf heutige Leser befremdlich altertümelnd oder faszinierend? Einige Gedichte lassen in der Durchdringung von dargestellter Situation und sprachlicher Selbstbewegung aus einem einfachen Bild neue Bilder entstehen:

DIR

Wie ein Säugling, der sich mit Essen beschmiert,

will ich mich beschmieren mit den Problemen der Welt.

Mein ganzes Gesicht, meine Augenbrauen,

mein Hemd, meine Hosen, das Tischtuch.

Das Kleid meiner Geliebten. Meine Mutter.

Die Berge. Die Himmel. Die Leute.

Die Füße der Engel.

In ihrer sprachlich nüchternen und erhabenen - manchmal subtilen - Einfachheit tendieren die Gedichte zum Wahrspruch. Dabei sind Amichais poetische Wahrheiten einfache Wahrheiten: "Man war schon vor mir auf dieser Welt." Seine poetische Weisheit sammelt durch das Leben geprüfte, vom Leben noch vibrierende, einfache Gedanken: "Ich muß mein Leben ändern und meinen Tod." Sein poetischer Reichtum ist vielsagend lakonisch: "Die Liebe ist nicht das letzte Zimmer."

Er gibt seinen Lesern erschütternde und tröstende Einblicke in das Handwerk des Lebens und in die Zerstörung. Zu leben heißt mehr als nur auf den "Listen voller Namen" verzeichnet zu sein: "Ich will wieder Sehnsucht spüren / bis hin zu dunklen Brandflecken auf der Haut. / Ich will wieder eingeschrieben sein / im Buch des Lebens, jeden Tag eingeschrieben, / bis die Hand des Schreibenden schmerzt." Und es gibt eine Hoffnung auf Verwandlung, so, wie der Verlust unausweichlich ist. Beides realisiert sich - letztlich ohne Schwierigkeit - in den gefundenen Worten, im Aussprechen, im bewahrenden Schreiben: "Oh meine Worte, traurige, frohe. Nägel meines Lebens."

Diese schmerzgesättigte, erfahrungsreiche Poesie kümmert sich mehr um das Leben als um die Sprache, sie bietet Lebenshilfe. "Ein gutes Gedicht ist wie ein gutes Gebet. Es gibt Leute, denen es hilft, und andere, denen es nicht hilft", so beantwortet Amichai in einem Interview die Frage nach der Qualität von Lyrik. Es ist eine Poesie der Atempause, der Sammlung, der Erinnerung; eine Poesie, die zugleich irritierend wirkt: Gegenüber der allgegenwärtigen Vernichtung bewahrt sie sich ein tröstlich-wundersames Staunen.

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Jehuda Amichai: Zeit. Gedichte.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
67 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3518409875

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