Wenn wir uns fürchten / lachen wir hier

Birgit Müller-Wielands Gedichte und Prosa haben einen ganz eigenen Ton

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor fast fünf Jahren ist unter dem Titel "Die Farbensucherin" ein Buch mit fünf längeren Prosastücken erschienen, das Birgit Müller-Wieland zu Recht viele gute Kritiken und einige Literaturpreise einbrachte. Es ist ein eigener Ton, der diese Prosatexte auszeichnet. Präzise in der Diktion, doch zugleich mit irritierenden Bildern durchsetzt, widerspricht Müller-Wielands Sprache allem, was man gemeinhin so "erzählen" nennt.

Ungewöhnlich genug beginnt bereits die erste Erzählung ("Beichte") über eine österreichische Nachkriegskindheit: "Mein Vater gebar mich mit einem großen Knall. Es war ein Krachen und Bersten. Die Knochen splitterten, und Blut spritzte die Wohnzimmerwände rot. Es war ein natürlicher Vorgang, denn er hatte meine Mutter verschlungen."

Ein natürlicher Vorgang? Bei Müller-Wieland jedenfalls müssen sich Leser darauf einlassen, dergleichen "natürlich" zu finden. Mit einer kühnen Metaphorik, die gewöhnlich ihren Platz eher in lyrischen als in erzählerischen Texten hat, versucht die Autorin Erfahrungen mitteilbar zu machen, denen mit einem nackten Berichtstil möglicherweise nicht beizukommen ist. Etwa die Kollisionen kindlichen Privatglaubens mit Familiensitte und den konventionellen Anforderungen der Amtskirche. Oder Missbrauchs-Erfahrungen jeglicher Art im Internat. Oder die unsichtbare Parallelwelt, in der sich die vom Schicksal gebeutelte alte Frau zum Unverständnis des Enkels eingerichtet hat. Müller-Wieland vermittelt - so in den Erzählungen "Nachtmusik" und "Geheimsache" - eine andere Sicht auf die traumatische Geschichte nicht nur der österreichischen Provinz im mittleren 20. Jahrhundert. Sie durchdringt gewissermaßen den "Grauschleier", der sich über die kollektiven und persönlichen Traumata ihrer Personnage gelegt hat, ohne ihn zu zerreißen. Das erzeugt eine mitunter beklemmende Atmosphäre, der sich so leicht niemand entziehen kann.

Wie damit umzugehen ist, auch wie man sich von dem alles verschattenden Grau wieder befreit, lässt sich aus den beiden mittleren Erzählungen "Netzhaut" und "Farben" erfahren. Die eine versammelt Eindrücke, die haften geblieben sind, in einer assoziativen Reihe von "Erinnerungen". Bilder, die der Netzhaut gleichsam eingeätzt wurden, und die traumscharf wieder aufgerufen werden: nicht analytisch überformt, sondern als Bilder. Wer ähnliche Bilder - oder die gleichen, zum Beispiel Greenaways Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" - gesehen hat, wird sie benennen können; die anderen können ermessen, was sie bedeuteten und bedeuten. Die andere Erzählung, eine anrührende Liebesgeschichte, erzählt davon, wie die Ich-Erzählerin, die sich schon in einer farblos grauen Welt einzurichten begonnen hatte, die Buntheit der Welt wieder wahrzunehmen lernt und dadurch reif wurde zur großen Liebe, fast zur Verwunderung der Erzählerin.

"Ich riß die Augen auf. Am Anfang wußte ich nicht, daß mir alles bekannt war. Es wartete offenbar darauf gesehen, genau betrachtet und bearbeitet zu werden. Die Welt war also formbar". Am geformtesten, wenn ich so sagen darf, am meisten verdichtet wird die Beobachtung und Welt-Verarbeitung im Gedicht. Und vielleicht war es daher auch nur ein "natürlicher Vorgang", dass sich die ohnehin zur lyrischen Verdichtung tendierende Erzählsprache Müller-Wielands schließlich zum Gedicht entpuppte.

Soeben erschienen ist der Band "Ruhig Blut" mit 61 Gedichten von Birgit Müller-Wieland. Die weitaus meisten dürften aus den späteren 1990er Jahren stammen, einige sind möglicherweise älter. Obwohl die Autorin alle möglichen Register zu ziehen weiß - von der Volkslied-Parodie ("Es plappern die Sender / am rauschenden Strom / plapplapp plapplapp / plapplapp") über das auch typografisch 'sprechende' Gedicht bis hin zur vorderhand hermetisch wirkenden Diktion der modernistischen Lyrik aus der frühen Nachkriegszeit - macht der Band keineswegs den Eindruck stilistischer Disparatheit. Vielmehr ist der durchgängige Eindruck, dass hier eine Autorin spricht, die sehen oder besser gesagt: genau hinschauen kann. Dieser Genauigkeit tut es keinen Abbruch, wenn der Ausgangspunkt ein Blick ohne "Schärfe" ist, wie ihn die "Farbensucherin" beschrieben hat: "Ich habe mir eine bestimmte Art des Sehens angeeignet. Ich nenne es tauchen. Ich tauche in Farben und Formen herum, wühle mit meinen Blicken das Gegebene auf. Ich spreize es auseinander, lasse es ineinanderstürzen, suche die lodernde Mitte. Die lodernde Mitte ist der Beginn der Arbeit." Am Ende der Arbeit steht das dann fertige, gewissermaßen aufgetauchte Gedicht.

Es gibt zahlreiche motivliche Verknüpfungen zwischen dem Prosa- und dem Lyrikband, denen nachzugehen reizvoll sein könnte. Etwa die vier Farben "Blau und Gelb und Rot und Grün". Oder die vier Elemente "Feuer, Wasser, Luft und Erde", letztere in den Gedichten vorzugsweise in ihrer dichtesten Form, dem Stein. Oder auch Situationen, wie die des Kindes, das seiner Mutter die Zunge herausstreckte, mit dem Kochlöffel geschlagen und mit Haus-Arrest bestraft wurde ("Eine Tür wurde verschlossen / einen Sommer lang / und für immer"). Im Vergleich scheint mir mitunter, dass die lyrische Formung das Erlebnis eindrücklicher zu fassen weiß.

Beeindruckend an Müller-Wielands Gedichten ist, dass ihnen weder schwülstige Emotionalität noch eine jede Artifizialität verschmähende Sprache eignet. Jenseits des alten Gegensatzes zwischen realistischer und hermetischer Schreibweise pflegt die Autorin einen Stil, der die äußerliche Beobachtung mit der Entfaltung einer subjektiven Gefühlswelt vereinbart. Sie wahrt dabei die Mitte zwischen einem in purer Form unerträglichen Pathos und einer all zu großen Nähe zur platten Alltagssprache. Ihre Sache sind poetische Bilder, die - um es mit Adorno zu sagen - "weder an den Faltenwurf noch an den Stammtisch sich verraten, weder an die Brusttöne noch ans Schmatzen". Dabei fand sie einen eigenen Ausdruck, der in der gegenwärtigen Lyrik kaum seinesgleichen hat.

Zweifellos fällt eine solche literarische Begabung nicht vom Himmel. Wie uns schon die "Farbensucherin" lehrt, hat Müller-Wieland sich an den besten Mustern geschult. In "Netzhaut" erweist sie beispielsweise Peter Weiss ihre Reverenz; neben angespielten früheren Romanen war es wohl vor allem seine "Ästhetik des Widerstands", die wie eine Axt das Eis in ihrem Innern sprengte, wie es dort in Anlehnung an eine Formulierung Franz Kafkas heißt. Weiss mag es auch gewesen sein, der die in allen Gedichten spürbare Sensibilität für soziale Verwerfungen und politische Widersprüche vollends entwickelte; und das ebenfalls alle Gedichte - ohne dass man immer sagen könnte, wie oder warum - grundierende feministische Bewusstsein schärfte, sei es auch in kritischer Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Müller-Wieland 1989 mit einer "Spurensuche weiblich" betitelten Arbeit über die "Ästhetik des Widerstands" promoviert wurde. Daneben stehen Anspielungen auf, oder paraphrasierte Zitate aus Werken von Georg Heym, Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Vor allem aber lassen mich die Gedichte Müller-Wielands mit ihrer Lakonie, die gleichwohl auch überraschende, ja gewagte Sprachbilder nicht scheut, an die spätere Lyrik von Rose Ausländer denken. Namentlich erwähnt sind in dem Gedichte-Band der jiddische Dichter Josef Burg (wie Ausländer und Celan aus Czernowitz in der Bukowina) und Sylvia Plath, deren beziehungsreiches Poem "Lady Lazarus" in der schönen Übersetzung Erich Frieds sogar wörtlich zitiert wird.

Es ist nicht möglich, alle Gedichte auf einen Nenner zu bringen. Zu vielfältig sind Themen und Anlässe der Texte. Sie reichen vom "Mittagsglück" bei einer Wanderung durch die Wohldorfer Wälder bis zum Befremden über die Bedenkenlosigkeit des NATO-Angriffs auf Serbien im Frühjahr 1999. Vielleicht das auffälligste Merkmal der meisten Gedichte ist jedoch ihre Sensibilität für die Brüchigkeit einer scheinbaren Idylle, für die mitunter bestürzende Gleichzeitigkeit von Glück und Unglück in einer medial zum Dorf geschrumpften Welt.

So kontrastiert Müller-Wieland zum Beispiel in einem dreiteiligen Gedicht die von George W. Bush gnadenlos angeordnete Hinrichtung Karla Faye Tuckers am 3. Februar 1998 ("Fünfminuten-Mord") mit dem gleichzeitigen Spaß der Kinder am Schlittschuhlauf an einem der schönsten Wintertage Berlins bzw. mit ihrem "guten Abend", nachdem der "fröhliche Zahnarzt" die Bakterien in ihrem Mund abgetötet hat.

Meistens aber wird die Unheimlichkeit noch des harmlosesten Idylls in den Gedichten nicht durch einen makrostrukturell angelegten Kontrast hergestellt, sondern in das poetische Bild oder in die einzelne Formulierung eingelassen. Die Wirklichkeit hat bei Müller-Wieland meistens einen doppelten Boden. Und unter der Oberfläche geht es nicht harmlos zu.

"Während wir in unsern arglosen Städten / schalten und walten schieben sie [= die Eisenblöcke] unbemerkt / ihre kalten Schnauzen ins Häuserfleisch hinein." Wahrscheinlich ist wirklich "nur manchmal [...] zu hören wie etwas beharrlich gräbt. / Doch wer hat solche Ohren! Und so kommt das Geschrei - wie immer - zu spät."

Unheimlich ist, dass noch immer, wenn wir uns geborgen glauben, wenn wir unser kleines Glück genießen, wenn wir uns von einem Schutzengel behütet fühlen, das Unglück und der Tod allgegenwärtig ist. Von wegen Schutzengel! "Ruhig Blut es / ist kein Räuber es // poltert doch nur / unser Engel ums // Haus mit seinen / Knochenflügeln mit seinem // Lachen das weich ist und / voller Gefahr unser // dunkler Engel der / fliegt nicht nach // oben der braucht keine / Luft der pflügt in der // Welt unten den Weg / durch Erde und Fleisch da // stehen selbst / die letzten // Würmer / stramm". Das hier so auffällige Enjambement ist eines der viel genutzten Kunstmittel Müller-Wielands, mit dem sie die Sätze auf eine Art aufreißt, die den doppelten Boden unseres Lebens sichtbar und all zu schnelle Rubrizierungen zuschanden macht, so etwa auch nach der alptraumhaften Szene einer Abtreibung: "Ich breche // auf".

Eine Nagelprobe für gute Literatur ist, ob es jemand schafft, Glück ohne Verrat am modernen "unglücklichen Bewusstsein" (Hegel) zu gestalten. Ich glaube, Birgit Müller-Wieland hat diese Probe bestanden. Etwa nach einem Aufstieg zum Krater des Vesuvs:

Daß ein Vulkan so gut
riecht war nicht zu ahnen
und wie weit die Häuser reichen
im Julidunst übersät von Ginstergold
Büschelmeer neapelgelb die Lavasteine hinauf
und die Nasenlöcher soffen sich voll mit Bergen aus Duft

Oben der Krater karg und kahl wie zu erwarten schauten wir
kurzatmig ins Land hinein Kyme Herculaneum Pompeji
verschwimmende Städte in dicker Luft die oben war
dünner und klarer zu sehn wie still der Vesuv ist
wie gleichmütig sein Warten emsig
sein Werken tief unten im Kern

Titelbild

Birgit Müller-Wieland: Die Farbensucherin. Prosa.
Haymon Verlag, Innsbruck 1997.
128 Seiten, 14,40 EUR.
ISBN-10: 3852182476

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Titelbild

Birgit Müller-Wieland: Ruhig Blut. Gedichte.
Haymon Verlag, Innsbruck 2002.
94 Seiten, 12,40 EUR.
ISBN-10: 3852183855

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