Vom Hundertsten ins Tausendste

In Hanna Johansens Roman "Lena" erinnert sich die bald Achtzigjährige an ihr Leben als Frau im Deutschland des 20. Jahrhunderts

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Freitag, der 12. November 1999, Lena war wie jedes Jahr am Geburtstag ihres Bruders Ludwig bereits früh am morgen auf dem Friedhof an seinem Grab. Ludwig war mit 48 gestorben, er beging Selbstmord. Wieder zurück in ihrer Wohnung will Lena nun alles schön vorbereiten für den Besuch ihrer Nichte, die zugleich ihre Tochter ist. Heute ist ein besonderer Tag, denn Lena will ihr endlich erzählen wie es wirklich war, damals.

Ganz fest nimmt sich Lena vor nicht wieder zu schweigen wie zu der Zeit, als Phia ein Jahr bei ihr gelebt hatte, um ihr Buch zu schreiben. Da fand sie den Mut nicht, auch nicht am Tag, als Willem auf ihrem Sofa starb, Phias Vater also, den diese sehr wohl kannte, wenn auch nur als den Geliebten ihrer Tante Lena. Dabei wäre das doch eine Möglichkeit gewesen, genau so wie jedes Mal, wenn sie zu dritt, Lena, Willem, Phia, in der Küche saßen, wie eine Familie. Doch damals fand Lena die Worte nicht. Und nie fragte sie sich, warum eigentlich Willem nicht geredet hatte, etwa am Küchentisch.

Doch Lena stellt keine Fragen. Sie erinnert sich. Und ihre Erinnerungen purzeln in ihrem Kopf herum, nicht geordnet und nicht chronologisch. Da spielt sich alles gleichzeitig ab, was dann aufgeschrieben die Ordnung bekommt, die sich zu einem Leben zusammensetzt, von der Geburt bis zum nahen Tod.

Lena ist das zweite von vier Kindern, sie ist das einzige, das noch lebt. Lissy bleibt ihr zeitlebens fremd, so der Eindruck, sie war die Älteste, die Lebenslustige, die dann doch immer wieder in die Falle tappte und so schwierige Beziehungen mit Männern hatte. Helfen lassen aber wollte sie sich nicht. Der Bruder, das Nesthäkchen, war noch klein, als die Mutter erkrankte und starb. Die Schwestern übernahmen dann deren Rolle. Dass er später mit dem Auto in eine Mauer raste war für Lena nur schwer zu verkraften. Was nur hatte sie falsch gemacht? Die Beziehung zur Schwägerin, die ihr offensichtlich auch nach all den Jahren noch die Schuld daran gibt, ist schwer gestört. Die beiden Frauen gehen sich aus dem Weg. Deshalb auch Lenas Friedhofsbesuch so früh am Morgen.

Am engsten verbunden waren sich Lena und Lotte. Lotte hatte - nach ihrer Enttäuschung mit dem Amerikaner Charles - den besten Mann gefunden. Dass sie ihn so früh verlieren musste war mehr als ungerecht. Lotte war auch eingeweiht in Lenas Geschichte, denn die beiden Schwestern trafen Willem zum ersten Mal in der Bahn, als sie einen letzten Versuch unternahmen, den verschollenen Vater zu finden. Willem und Lena wurden ein Paar, für Jahrzehnte, nur durfte niemand davon wissen. Und als Willem Lena bat ihn zu heiraten, war sie entsetzt. "Nein, höre ich eine Stimme in meinem Kopf, nein, nein, nein. So viel kaputtmachen, sage ich, das dürfen wir nicht. Meine Eltern sind auch zusammengeblieben, sage ich, und was hätten wir tun sollen, wenn sie nicht zusammengeblieben wären. [...] Wir hatten wochenlang dieses eine Thema, und ich konnte immer nur den Kopf schütteln und nein sagen. Wenn man einmal sein Wort gegeben hat, darf man nicht weglaufen. Der Anstand verlangt das. Und was die Familie dazu sagen würde, ist ein Kapitel für sich. Heute weiss ich, wie falsch das war. Oder ich habe es schon damals gewusst, aber ich konnte einfach nicht danach handeln."

Lena ist und handelt konsequent. Als sie 1943 schwanger wurde sah sie in Willy den Vater für das Kind. Das war Grund genug für eine Heirat - und für lebenslange Schuldgefühle weil sie ihn missbraucht hat. "Aber dass ich einen Fehler machen und ihn bereuen würde, das habe ich von Anfang an gewusst. Ich dachte, ich müsse diesen Fehler machen, um noch schlimmere Fehler mit noch schlimmeren Folgen zu vermeiden."

"Ich komme vom Hundertsten ins Tausendste", sagt Lena einmal und meint damit auch wie schwierig es ist, die Geschichte von Phia zu erzählen. Als Lena 1958 erneut schwanger wurde, von Willem natürlich, musste das vertuscht werden. Die beiden Schwestern darufhin einen etwas absonderlichen Plan aus: Lotte, die sich doch so sehr ein Kind wünschte nach ihrer Fehlgeburt, sollte sich, als die werdende Mutter ausgeben. Da eine Niederkunft nur in den USA möglich war, fuhren beide Frauen hin. Lena müsse dort ihr Kind gebären, damit zu Hause niemand etwas davon erfahren würde. So wussten denn nur Lotte und ihr Ehemann sowie Lena und Willem, wie es wirklich war. Dass Phia nach wie vor nicht aufgeklärt ist über ihre wahren Eltern, dürfte nicht sein, doch wie und wann soll Lena es ihr erzählen? Auch an diesem Freitag wird es nicht dazu kommen, denn Phia ruft an, sie sitze fest, der Zug könne nicht weiterfahren. "Kann ich am nächsten Freitag kommen?"

Hanna Johansen legt einen unglaublich reichen, dichten Roman vor, wie man es bereits aus früheren Werken dieser Autorin kennt, die 1939 in Bremen geboren wurde und seit 30 Jahren in der Nähe von Zürich lebt. So wie Lena ihre Erinnerungen an ein langes schwieriges Leben in Worte zu fassen versucht, so war es vor rund 20 Jahren das Kind in "Die Analphabetin", das die Welt - es war Krieg in Deutschland - aus seiner Perspektive erzählt. Wie bei Hanna Johansen eigentlich immer geht es in beiden Büchern um die Frage, wie die Gleichzeitgkeit von Erinnerungen in Sprache umgesetzt werden kann, so dass die verschiedenen Ebenen von Zeit und Ort, die sich in der Erinnerung einer Chronologie verweigern, beibehalten werden. Lena erzählt, wie ihr die Dinge in den Sinn kommen. So setzen sich alle geschilderten Lebensläufe für den Leser puzzleartig zusammen.

Titelbild

Hanna Johansen: Lena. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
152 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446201319

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