Von Abwieglern, Pragmatikern und Gralssuchern

Ein Sammelband befindet sich noch immer auf der Suche nach der Liter@tur

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Man stelle sich vor, jemand bringt einen wissenschaftlichen Sammelband heraus unter dem Titel: "Schreibgerät - Literatur - Kommunikation". Dem interessierten Leser fallen zu jedem der Begriffe Assoziationen zuhauf ein, auch ein Zusammenhang ist denkbar, sogar so weit, dass eigentlich alles gemeint sein könnte. Die Erwartungen darüber, was man in dem so betitelten Band finden könnte, dürften gegen null gehen, viel zu disparat ist das Feld. Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Thorsten Liesegang haben einen wissenschaftlichen Sammelband herausgegeben, und der trägt im Untertitel die Wörter "Computer - Literatur - Internet". Geschieht damit heutzutage noch eine Eingrenzung oder nicht vielmehr schon eine Entgrenzung? Der Haupttitel des Bandes legt nach wie vor den Glauben der Herausgeber an eine durch die drei Begriffe definierte Liter@tur nahe, die Lektüre der einzelnen Beiträge jedoch macht deutlich: es ist tatsächlich von allem und nichts die Rede.

Noch immer scheint die wichtigste Funktion von Publikationen zur Verbindung von Literatur und digitalem Medium die Klärung des Definitionsnotstandes zu sein, die ewige Frage, was denn nun eigentlich gemeint ist. Dabei gibt es einige unterschiedliche Strategien und deren Verfechter: In diesem Band nur indirekt in der Form von Zurückweisungen vertreten sind die Abwiegler, die an nichts Neues unter der Sonne mehr glauben mögen und deshalb jede Innovation, die das digitale Medium mit sich bringen könnte, entweder als irrelevant oder längst in der analogen Literatur existent erklären. Literatur im Internet hat damit einem vielzitierten Ausspruch zufolge in etwa die Existenzberechtigung von Hörspielen aus dem Handy

Ebenfalls nur im Zitat anwesend sind die Pragmatiker, die vor allem aus dem amerikanischen Raum stammen. Diese haben bereits in der Vor-Internet-Zeit ausgehend von der Texttheorie des Poststrukturalismus den Begriff "Hyperfiction" entwickelt. Dieser Begriff ist klar umrissen, nicht zuletzt durch den vorliegenden Textkorpus, von dem ausgehend sich die eigentliche Analyse anfangen lässt. Das jedoch ist den Gralshütern der Netzliteratur, in diesem Band vertreten durch Florian Cramer und seine neun Thesen "Warum es zuwenig interessante Computernetzdichtung gibt", zu wenig. Ähnlich wie die Abwiegler definieren sie mit zäher Beharrlichkeit alles an der digitalen Literatur hinweg, was sich auch in einer nicht netzbasierten Umgebung realisieren ließe, im Unterschied zu diesen jedoch in der utopischen Hoffnung, so "das netzige an der Netzliteratur" zu fassen zu kriegen, deren spezifisch Neues und Nie-dagewesenes. Warum es unter diesem Blickwinkel zuwenig interessante Computernetzdichtung gibt, sollte eigentlich kaum überraschen.

Verwandt mit den Gralssuchern, aber weniger dogmatisch sind die Universalisten, die ebenfalls das Einzigartige der Netzkommunikation beschreiben wollen, jedoch nicht durch Exklusion all dessen, was nicht eigentlich Netz ist, sondern durch Inklusion von beinahe allem in das kommunikativ-soziale Kraftfeld der Netzwerke. Damit gibt es zwar unglaublich viel zu beschreiben, von einem irgendwie haltbaren Literaturbegriff aber kann kaum noch eine Rede sein. So bringt Heiko Idensen dem Leser "Gemeinschaftliches Schreiben im Netz" näher, wobei Schreiben jede Art des Schreibens sein kann, eine ästhetische Wertung aber schon vom Ansatz her falsch wäre.

Last but not least gibt es dann noch die Innovativen, die mit so offenen wie staunenden Augen die unterschiedlichen Entwicklungen in den Medien Computer und Internet verfolgen und daraus wiederum ganz neue Ansätze für die Definition von Literatur, Fiktion oder Kunst im Computer gewinnen. Roberto Simanowski gehört zu den wichtigsten dieser Spezies. Er bietet hier auf der Basis eines älteren Ansatzes die Begriffe "Interactive Fiction und Software-Narration".

Sperrt man nun all diese Typen in den hallenden Diskussionsraum eines Sammelbandes, lässt sich der Eindruck eines kaum noch verständlichen Stimmengewirrs wohl nicht verwehren. Als roter Faden fungiert lediglich der in fast allen Beiträgen getätigte Rückblick auf die kurze Vergangenheit des jungen Genres, was zur Folge hat, dass die Pioniere der Informationstechnologie Vannevar Bush und Theodore Nelson immer wieder aufs Neue zitiert werden.

Eher ein Fremdkörper im Reigen der literaturtheoretischen Positionsbestimmungen ist der letzte Text der Sammlung, in dem Erich Maas über "Verlage, Literatur, erweiterte und neue Publikationsformen und Vertriebe im WWW" berichtet. Was in der ersten Hälfte eine erfrischend nüchtern sachliche Darstellung des derzeitigen Staus im Bereich Book on Demand und eBook ist, gerät zum Schluss zu einem eher unverhohlenen Werbetext für eine Internetplattform von Kleinverlagen.

Was bleibt? Auf jeden Fall das Gefühl, es nicht mit einem Thema zu tun gehabt zu haben, sondern mit mehreren, von denen jedes eigener Untersuchungen und Sammelbände wert ist, die jedoch kaum etwas miteinander gemein haben. Kinetische Poesie, also bewegte Buchstaben oder Wörter auf dem Bildschirm, sind der konkreten Poesie der fünfziger Jahre näher als den Hyperfictions, deren Affinität zu den Theorien eines Roland Barthes und Jacques Derrida oder den metafiktionalen Spielereien eines Robert Coover, Jorge Luis Borges oder Milorad Pavic größer ist als die Verwandtschaft zu kollaborativen Mitschreibeprojekten, die wiederum eher ein Untersuchungsgegenstand für die Soziologie sind als für die Literaturwissenschaft. Man sollte aufhören, nach einer Universaltheorie zu suchen, sonst findet man die Literaturen vor lauter Liter@tur nicht.