Eine riesig mühevolle Arbeit und vielleicht nicht mal geglückt
Mit "Cécile" in kritischer Neuausgabe liegt der zehnte Roman Theodor Fontanes im Rahmen der großen Brandenburger Ausgabe des Berliner Aufbau-Verlags vor
Von Gesa Steinbrink
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Es kann nun also damit los gehn, - ich glaube was ganz Feines." Mit diesen Worten an seine Frau Emilie leitet Theodor Fontane den Beginn seiner Arbeit an der 1886 erschienenen Novelle "Cécile" ein. Fontanes umfangreiche Briefkorrespondenz, die er Zeit seines Lebens mit Frau und Familie, Freunden, Kollegen und Verlegern unterhielt, dokumentiert zweifellos am besten und wahrhaftigsten Wesen und Werk des Dichters, so dass man versucht ist, ihn kommentarlos für sich selbst sprechen zu lassen. In zahlreichen Briefen werden die inneren und äußeren Vorgänge des fast zweijährigen Schreibprozesses zu "Cécile" detailliert beschrieben. Worum es geht, vermag Fontane selbst am treffendsten zu formulieren.
"Stoff: Ein forscher Kerl, 35, Mann von Welt, liebt und verehrt - nein, verehrt ist zuviel - liebt und umcourt eine schöne junge Frau, kränklich, pikant. Eines schönen Tages entpuppt sie sich als reponierte Fürstengeliebte. Sofort veränderter Ton, Zudringlichkeit mit den Allüren des guten Rechts. Konflikte; tragischer Ausgang."
Soweit der Inhalt der Novelle, die jedoch einer intensiven Vorarbeit bedurfte. Im Sommer 1884 verbringt Fontane fast drei Wochen im Harzer Luftkurort Thale, um sich neben Ruhe und Erholung vor allem der Niederschrift einer Novelle zu widmen, deren erste Hälfte im hiesigen "Hotel Zehnpfund" spielen soll. Die Bekanntschaft mit einigen mehr oder minder interessanten Kurgästen, darunter die nervöse, etwas extravagante und um 33 Jahre jüngere Frau des Hofpredigers Strauß, verschafft ihm genügend Anreize für seine Arbeit, die gegen Ende des Aufenthalts allmählich Gestalt annimmt. Nach einer langwierigen, kräftezehrenden Korrektur ist "Cécile" im Herbst 1885 druckreif, doch zu Fontanes großer Enttäuschung lehnen gleich mehrere renommierte Verleger die Veröffentlichung ab, was den zutiefst gekränkten Dichter sogar zu dem trotzigen Ausspruch veranlasst: "brauchte ich es nicht zum Lebensunterhalt, ich schriebe keine Zeile mehr." Doch die Rettung der literarischen Produktivität Fontanes naht in Gestalt eines Redakteurs, der "Cécile" als Vorabdruck in der Zeitschrift "Das Universum" gegen gute Bezahlung im Frühjahr 1886 veröffentlicht; ein Jahr später erscheint die Erstausgabe im Verlag von Emil Dominik.
Ende gut alles gut? Nicht ganz, denn da wäre ja noch das tragische Schicksal der schönen Cécile. Psychisch wie physisch nicht gut zu Fuß, lernt sie also in Thale den fidelen, wort- und weltgewandeten Zivilingenieur von Gordon-Leslie kennen. Er ist fasziniert von der geheimnisvollen Aura der aparten Frau, die zwar mit den gesellschaftlichen Konventionen vertraut, jedoch erschreckend ungebildet ist. Schon bald verfällt er in eine heftige Zuneigung zu ihr, die er trotz Maßregelungen seiner Vernunft nicht abzustellen vermag. Zurück in Berlin kommt er hinter das Geheimnis ihres Schwermuts: Cécile war bereits zweimal die Mätresse eines Fürsten, bevor sie den wesentlich älteren Oberst a. D. von St. Arnaud heiratete. Gordon indes fühlt sich dadurch noch stärker zu ihr hingezogen, gesteht ihr - zumindest läßt sich dies aus der üblichen Fontaneschen Zurückhaltung entnehmen - seine Gefühle und beschwört sie regelrecht, aus ihrem unglücklichen Leben auszubrechen. Sie ahnt die heraufkommende Katastrophe, und obwohl sie seine Gefühle irgendwie zu erwidern scheint, stellt sie ihn vor die Wahl, entweder lediglich Freund zu sein oder sich gänzlich von ihr fernzuhalten. Eifersüchtig, weil er sie mit einem Bekannten in der Oper sieht, sucht Gordon sie zu später Stunde in ihrer Wohnung auf, um seinem Unmut Luft zu machen. Empört über diese Anmaßung und Verletzung der Ehre, fordert St. Arnaud ihn zum Duell: "Tu l'as voulu, Georges Dandin!" Als Cécile von Gordons Tod erfährt, nimmt sie sich das Leben.
Die stoffliche Nähe zur knapp zehn Jahre späteren "Effi Briest" ist kaum zu übersehen. Fontane hegte offenbar eine Vorliebe für tragische Frauenfiguren, die er wiederum in einem Brief erklärte: "Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl auch der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Sünden und Schwächen willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und Effi ein wenig zu erklären."
Das erklärt in der Tat so einiges. Zum Beispiel warum sich permanent der Eindruck aufdrängt, Fontane wolle uns regelrecht dazu zwingen, "seine" Cécile eben so gern zu haben wie er selbst. Doch trotz all der Bemühungen stellt sich kein Gefühl der Bewunderung oder zumindest Sympathie, nicht einmal Mitleid ein. Die ständig betonte Schönheit und Zartheit der kränkelnden, kapriziösen und dabei so mystischen Cécile sind anstrengend - oder wie Fontane vermutlich sagen würde: inkommodierend. Sie wirkt hochstilisiert, nahezu künstlich entrückt; wie lässt sich das mit Fontanes Natürlichkeitsanspruch vereinen? Den Grund dafür hat er aber bereits selbst geliefert. Er ist in sie verliebt. Die daraus resultierende "Erhöhung" ist ja nicht unbedingt problematisch, wäre da nicht der Anspruch, anhand ihres Schicksals die Engstirnigkeit ihrer Umwelt, der Bourgeoisie, einer heuchlerischen Gesellschaft, die sich an veraltete, sinnlose und unmenschliche, weil beengende Prinzipien klammert, aufzuzeigen. Durch die geradezu glorifizierende Gestaltung Céciles entsteht eine Diskrepanz zwischen ihr und den anderen Figuren, die dadurch klischeehaft wirken, allen voran ihr spröder Ehemann, den man demzufolge gleichermaßen charakterlos finden soll, wie man sie gut zu finden hat. Somit verliert die Novelle ihre Aussagekraft und verfehlt die Absicht, den Leser von der Brisanz und Wichtigkeit des Themas zu überzeugen.
Erschwerend kommt hinzu, dass in den Anmerkungen dieser neuen Ausgabe zwar die Entstehungsgeschichte der Novelle beschrieben wird, doch da der Abstand zur Gegenwart Fontanes aber mittlerweile so groß ist, sollten dem heutigen Leser darüber hinaus ausführliche Wort- und Sacherläuterungen zur Seite gestellt werden. So ist man entweder mit den gesellschaftlichen Themen und Gepflogenheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestens vertraut oder begnügt sich mit dem Kern der Geschichte, was sicherlich nicht im Sinne des Verfassers wäre, der nämlich seine Arbeit stets gründlichen Überarbeitungen unterzog - nicht zuletzt um möglichen Verständnisschwierigkeiten vorzubeugen. Energisch wehrte er sich gegen die Behauptung, "Cécile" sei nur eine Alltagsgeschichte, "zumindest will die Geschichte noch etwas mehr sein." Nämlich moralisch, denn schließlich predige sie den Satz: "Sitzt man erst mal drin, gleichviel ob durch eigne Schuld oder unglückliche Constellation, so kommt man nicht mehr heraus. Es wird nichts vergessen."
Vom zeitgenössischen Publikum, Lesern wie Kritikern, wurde die Novelle begeistert aufgenommen. Heute bezeichnen manche Literaturwissenschaftler "Cécile" als den Anfang von Fontanes literarischer Meisterschaft, doch neigt er gelegentlich zu ermüdenden Wiederholungen, die schon jedem Zehntklässler rot angestrichen werden. Wäre man gemein, könnte man ihm sogar die für ihn typische und oft hochgelobte Beiläufigkeit, mit der er die Vorgänge zu beschreiben pflegt, als fehlende Traute, die Dinge beim Namen zu nennen, auslegen. Zweifellos unterlag auch Fontane den hemmenden sittlichen und moralischen Geboten seiner Zeit, doch zeigt er sich hier weder subtil noch offensiv genug, um seinem Ruf als Gesellschaftskritiker gerecht zu werden. In seinen Briefen hingegen präsentiert er sich als wacher, kritischer Zeitgenosse, der sich und seine Umwelt aufmerksam beobachtet und sehr wohl in der Lage ist, Schwächen und Mißstände treffend, präzise, mit Stil und Humor zu charakterisieren. Eben dieser Scharfsinn lässt sich in der Novelle nicht entdecken.
"Aber schließlich, was ist interessant? Doch am Ende nur das, was fleißig und ordentlich ist", schreibt Fontane an Georg Friedländer. In diesem Punkt unterläuft ihm ein fataler Irrtum.
Doch wer so allen Fontane-Kennern und -Liebhabern (un-)gehörig auf den Schlips getreten ist, sollte zu guter Letzt das Wort an seine Frau Emilie abgeben, die "ziemlich unverblümt eine starke Langweiligkeit" bekundet.
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