Zurück zu den Vorsokratikern
Karl Popper und der Ursprung des europäischen Denkens
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Größe der Vorsokratiker, die in der Philosophiegeschichte immer wieder auf einen Ehrenplatz gehoben werden, liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass die Philosophie bei ihnen ihren Ausgang genommen hat. Denn darüber lässt sich streiten und ist auch in der Vergangenheit gestritten worden. Sie liegt vielmehr darin, dass viele wesentliche Fragen, Themen und Bedingungen der Wissenschaft und der Philosophie erstmalig in den erhaltenen Äußerungen der Vorsokratiker aufzufinden sind. Wenn es eine Vorbildhaftigkeit der Vorsokratiker gibt, so ist sie vor allem in einer kritischen und rationalen Haltung begründet, die nicht bloße kulturgeschichtliche Tatsache sein sollte, sondern heute kaum weniger als damals errungen werden muss. Die Bezeichnung "Vorsokratiker" hat keine tiefe, sondern eher eine konventionelle Bedeutung. Es wäre vielleicht sogar besser, sie nicht mehr zu verwenden; sie hat sich aber so eingebürgert, dass es sich nicht lohnt nach einem anderen Namen Ausschau zu halten. Es sei aber gestattet darauf hinzuweisen, dass es auch Vorsokratiker gegeben hat, die Zeitgenossen des um 399 v. Chr. gestorbenen Sokrates waren. Auch soll vor der seit Nietzsche beliebten Annahme gewarnt werden, dass der Impuls, den Sokrates der Philosophie gegeben hat, diese in eine so völlig andere Richtung lenkte, dass die vorsokratische Periode als eine in dieser Hinsicht abgeschlossene betrachtet werden könnte. Für Platon und Aristoteles, für die Stoiker und Epikur sind die Vorsokratiker unter Umständen nicht weniger wichtig oder sogar wichtiger als die sokratische Philosophie.
Die vorsokratische Philosophie hat in den ersten Dezennien des 6. Jahrhunderts v. Chr. auf der von Griechen besiedelten westlichen Küste der heutigen asiatischen Türkei, im so genannten Ionien, begonnen. Anscheinend haben die Randgebiete des griechischen Siedlungsraumes günstigere Bedingungen für die erste Entfaltung des philosophischen Denkens geboten als das eher konservative Mutterland. Nicht zuletzt deshalb spielt sich die Geschichte der Philosophie vor Sokrates beinahe im gesamten griechischen Sprachraum ab und ist nicht, wie zu Zeiten Platons, Aristoteles' und der großen frühhellenistischen Schulen, fast ausschließlich auf einen einzigen Ort, nämlich Athen, beschränkt. Daher sei die kritische Nachfrage erlaubt, ob es angemessen ist, im Zusammenhang mit der vorsokratischen Philosophie tatsächlich von dem Ursprung des 'europäischen Denkens' zu sprechen, wie dies etwa der englische Philosoph Karl R. Popper tat.
Aristoteles behauptet, am Anfang der Philosophie stehe das Staunen oder die Verwunderung über die unmittelbar sich darbietenden Erscheinungen. Man ist versucht hinzuzufügen, am Anfang des Erkenntnisproblems stehe die Verwunderung über die sich darbietenden philosophischen Erkenntnisse. Für Aristoteles (Metaphysik 1-2) ist Philosophie die höchste Form des Wissens, das sich von der Erfahrung durch das Merkmal der strengen Allgemeinheit unterscheidet. Die Feststellung, ein bestimmtes Heilmittel habe bei einer bestimmten Krankheit geholfen, sei noch kein Wissen. Wissen sei vielmehr erst mit der Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhangs gegeben, dass ein spezifisches Heilmittel bei einer spezifischen Krankheit immer hilft, und das setze wiederum die Erkenntnis der Ursache, weshalb das Mittel hilft, voraus. Für das Wissen sind nach Aristoteles daher die Begriffe der Ursache (aitía) und des Grundes (arché) wesentlich. Als höchste Form des Wissens befasse sich die Philosophie mit den ersten Ursachen und Gründen. Die Werke der Denker, mit denen Aristoteles die Geschichte der Philosophie beginnen lässt, sind uns nicht vollständig erhalten. Wir besitzen lediglich Zitate, die sich bei Platon bis hin zu byzantinischen Autoren finden, wobei das Alter oft kein Kriterium für die Genauigkeit eines Zitats ist. Die Darstellung der Vorsokratiker in der Aristotelischen Metaphysik ist bestimmt von der Frage, wieweit seine Lehre von den vier Ursachen (Stoff-, Bewegungs-, Ziel- und Formursache) sich bereits bei den Philosophen vor ihm findet. Sieht man einmal von dem Homo-mensura-Satz des Protagoras ab, bricht erst Aristoteles ganz eindeutig mit der Unterscheidung zwischen göttlichem Wissen und menschlicher Meinung.
Diese Setzung von beweisbarem wissenschaftlichem Wissen (episteme) sei der "Hauptgrund" dafür, versichert Popper in der Einführung seines Buches "The World of Parmenides. Essays on the Presocratic Enlightenment", dass er Aristoteles "nicht mag". "Was bei Platon eine wissenschaftliche Hypothese ist, wird bei Aristoteles episteme, beweisbares Wissen. Und so ist es bei den meisten Erkenntnistheoretikern bis heute geblieben. So also bricht Aristoteles mit der rationalistischen Überlieferung, die besagt, daß wir sehr wenig wissen. Er denkt, daß er eine Menge weiß, und versucht, eine Theorie der episteme aufzustellen, eine Theorie beweisbaren Wissens." Da Aristoteles ein kluger Mann sei, komme er zu der Schlussfolgerung, dass seine These vom beweisbaren Wissen ihn in einen Regress ins Unendliche führe. Schließlich muss dieses Wissen ja, wenn es bewiesen werden soll, logisch von etwas abgeleitet werden, das seinerseits wieder beweisbares Wissen sein und daher erneut von etwas abgeleitet werden muss. Nach Popper besteht das Problem nun darin, wie dieser Regress beendet werden kann, oder zu klären, was die Ausgangsprämissen sind und wie man beweisen kann, dass diese wahr sind. Er äußert den Verdacht, dass der Logiker Aristoteles "intellektuell ein schlechtes Gewissen hatte, als er diese Theorie einführte". Zwei Gründe sind für Popper evident: Zum einen werde er trotz seiner im Allgemeinen vorherrschenden objektivistischen Grundhaltung "auf merkwürdige Art" zum Subjektivisten in seiner Theorie des Wissens. "Eine Theorie, die besagt, daß der Wissende und das Wissen identisch sind, ist zweifellos eine Art von Subjektivismus und hat mit der Objektivität des beweisbaren oder syllogistischen Wissens nichts zu tun." Zweitens sei die Tatsache verblüffend, dass Aristoteles ausgerechnet Sokrates für die Erfindung der Induktion verantwortlich mache. "Sokrates aber wäre wohl der letzte gewesen, der behauptet hätte, er (oder irgendwer sonst) wäre im Besitz von episteme, die man auf einem solchen Weg gewinnen könne, und zwar ganz einfach deshalb, weil er immer betonte, er habe keine episteme: Sokrates behauptet, nichts zu wissen, so drückt es Aristoteles aus - was er meint, bedeutet allerdings (wörtlich übersetzt) eher, daß Sokrates bekennt (oder vorgibt), nichts zu wissen."
Für Popper war Aristoteles ein bedeutender Wissenschaftler (allerdings nicht so bedeutend wie Demokrit), er war aber vor allen Dingen "ein Gelehrter, ein großer Logiker, dem wir die Erfindung der Logik verdanken, und ein bedeutender Biologe". Gleichzeitig ist er der Meinung, dass mit der Theorie des Aristoteles, Wissenschaft sei episteme, also sicheres Wissen, "das große Unternehmen des kritischen Rationalismus der Griechen aufgegeben" wurde. Es war Aristoteles, "welcher der kritischen Wissenschaft den Garaus machte, zu der er doch selbst einen bedeutenden Beitrag geleistet hatte". Die Erkenntnistheorie als Opfer der Aristotelischen Methode der Induktion und die Widerlegung der Induktionstheorie sind zwei der bedeutendsten Themen in Poppers Essay-Sammlung "The World of Parmenides", von der nun eine deutsche Ausgabe vorliegt. Die Essays behandeln vorwiegend die drei großen Vorsokratiker - Xenophanes, Heraklit und Parmenides - , aber auch Sokrates und Platon und alles, "was wir bis heute aus dieser wichtigsten und originellsten Epoche der griechischen Philosophie lernen konnten und noch lernen können, einer Epoche, die mit der dogmatischen Erkenntnislehre des Aristoteles ihr Ende fand, wovon sich sogar die Philosophie unserer Tage noch kaum erholt hat."
Zeit seines Lebens hat sich Popper mit den vorsokratischen Philosophen auseinandergesetzt. "The World of Parmenides", das große Buch aus Poppers Nachlass, verdeutlicht, mit welcher Intensität und Liebe zum Gegenstand er sich dem Studium der Vorsokratiker verschrieben hat: "Parmenides öffnete mir die Augen für die poetische Schönheit der Erde und des gestirnten Himmels. Er lehrte mich, sie mit neuem Forscherblick zu betrachten. In den einzelnen Essays werden vor allem zwei Anliegen Poppers deutlich: Zum einen sucht er nach Belegen für seine zentrale These, dass Geschichte immer die Geschichte von Problemsituationen ist. Zum anderen zeigt er die Bedeutung der frühgriechischen "Aufklärung", der Europa seine philosophischen Fundamente, seine Wissenschaft und seinen Humanismus verdanke. In klarer und präziser Diktion demonstriert Popper dabei die erstaunliche Vielfalt und ungebrochene Bedeutung vorsokratischen Denkens auch für heutige philosophische Ansätze. In nuce laufen Poppers Bestrebungen auf die Erkenntnis zu, "daß unsere Versuche, die Wahrheit zu sehen und zu erkennen, nicht endgültig sein können, sondern daß sie verbessert werden können; daß unser Wissen und unsere Lehre aus Vermutungen bestehen, daß sie sich aus Vermutungen und Hypothesen zusammensetzen und nicht aus endgültigen und sicheren Wahrheiten; und daß Kritik und kritische Diskussion unsere einzigen Hilfsmittel auf dem Wege der Annäherung an die Wahrheit sind." Programmatisch heißt es etwa in dem zentralen Essay "Zurück zu den Vorsokratikern": "Die wahre Erkenntnistheorie [...] ist, wie ich glaube, diese: die wahre Beschreibung einer Praxis, die in Ionien begann und die Eingang in die moderne Wissenschaft gefunden hat [...], nämlich die Theorie, daß die Erkenntnis nur auf dem Weg der Vermutungen und Widerlegungen voranschreiten kann."
Die Verteidigung der Toleranz aus der sokratischen Einsicht 'Ich weiß, dass ich nichts weiß, und kaum das' fordert für Popper dazu heraus, "jene ethischen Konsequenzen zu ziehen, die von Erasmus, Montaigne, Voltaire und Lessing gezogen wurden". Drei solcher Prinzipien werden explizit genannt: das Prinzip der Fehlbarkeit, das Prinzip der rationalen Diskussion und das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit. Bemerkenswert ist nun, dass diese drei Prinzipien gleichermaßen erkenntnistheoretische wie ethische Prinzipien sind. Sie implizieren nach Popper: "Wenn ich von dir lernen kann und es auch will, dann muß ich dich im Interesse der Wahrheit nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen, denn die Haltung, alle Menschen als gleichwertig und gleichberechtigt anzuerkennen, ist die Voraussetzung für unsere Bereitschaft, rational zu diskutieren."
Ausgesprochen problematisch ist die von Popper wenig reflektierte Verwendung der Termini 'Aufklärung' und 'Ursprung des europäischen Denkens', da hier ausschließlich aus einer auf das griechische Denken zentrierten Perspektive argumentiert wird. Nun ist aber seit längerem bekannt, dass auch ganz massive auswärtige Impulse und Anregungen auf das 'europäische Denken' eingewirkt haben. Vieles spricht dafür, dass sich darunter auch Einflüsse nahöstlicher intellektueller Tradition befanden, zumal die Griechen bei ihren häufigen Kontakten mit den von Anatolien bis Ägypten reichenden vielfältigen Kulturen des östlichen Mittelmeerraumes vieles lernen und aufgreifen konnten, ohne davon aufgesogen zu werden und dadurch ihre Identität zu verlieren. Hier also wäre auch für die vorsokratische Philosophie anzusetzen, da sich die übliche griechische Perspektive nach meinem Ermessen als ungenügend erweist. Das Bild muss aus nahöstlicher Perspektive ergänzt werden, und von dorther mag sich manches anders darstellen, zumal wenig mehr als ein Jahrhundert nach Hesiod die Anfänge der griechischen Mathematik, Astronomie und Philosophie entscheidend von östlichen Einflüssen geprägt wurden. Poppers programmatische exclamatio 'Zurück zu den Vorsokratikern' muss also in jedem Fall um eine weite Lebensbereiche umfassende massive kulturelle Ost-West-Bewegung ergänzt werden, die die Entwicklung der griechischen Kultur in vielerlei Hinsicht nachhaltig beeinflusst hat.
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