Ein Tag im Leben

Michael Cunningham brilliert mit seinem Roman "Die Stunden"

Von Julia LakenbrinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Lakenbrink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines Morgens im Jahr 1923 erwacht Virginia Woolf und hat den perfekten ersten Satz für ihren vierten Roman mit dem Arbeitstitel "The Hours", der später "Mrs. Dalloway" heißen wird, im Kopf. Sie fängt sofort an zu schreiben.

So beginnt Michael Cunninghams Roman "Die Stunden", in dem er einen Tag im Leben dreier sehr verschiedener Frauen sehr bewegend darstellt. Virginia Woolf bangt davor, wieder die schrecklichen Kopfschmerzen zu bekommen, die sie seit einiger Zeit plagen, und Stimmen zu hören. Sie will schreiben, solange der Schmerz sie noch nicht überfallen hat, und sehnt sich zurück in die Großstadt, nach London, obwohl sie weiß, dass ihr das Leben auf dem Land in Richmond gut tut. Außerdem würde sie ihr besorgter Mann Leonard nicht wieder nach London lassen. "Mrs. Dalloway sagt, sie wolle die Blumen selber kaufen", schreibt sie schließlich.

Etwa diesen Satz sagt Clarissa Vaughan, als sie an einem schönen Junimorgen im pulsierenden New York der späten neunziger Jahre spazieren geht. Ihr Jugendfreund Richard nennt sie Mrs. Dalloway, da sie der Hauptfigur aus Virginia Woolfs Roman seiner Meinung nach ähnelt und mit ihr den Vornamen teilt. Sie möchte Blumen kaufen, da sie - wie Mrs. Dalloway - ein Fest vorzubereiten hat. Der an AIDS erkrankte Richard hat gerade einen Literaturpreis erhalten und möchte sie eine Party für ihn geben. An einem Morgen im Jahr 1949 hat Laura Brown ebenfalls eine Party vorzubereiten, die Geburtstagsparty für ihren Mann Dan, mit dem sie bereits einen dreijährigen Sohn hat und von dem sie ein zweites Kind erwartet, und beginnt stattdessen "Mrs. Dalloway" zu lesen. Laura ist unglücklich, möchte einfach im Bett liegen bleiben und lesen, um in eine andere Welt zu entfliehen. Ihr gelingt es immer weniger mit dem, was sie als ihr wirkliches, verborgenes Ich empfindet, zu vereinbaren und entschließt sich an diesem Tag zur Flucht. Sie mietet sich ein Hotelzimmer und vertieft sich in die Lektüre von "Mrs. Dalloway".

Inspiriert von Virginia Woolfs Werk, stellt Michael Cunningham sehr sanft und beeindruckend die Gedanken und Gefühle von Virginia, Clarissa und Laura dar, die sich um Liebe, Freundschaft, Kunst, unbändige Lebensfreude, Glück, Verzweiflung, Todessehnsucht, das Leben, den Tod und die Stunden zwischen den Stunden drehen: "Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartungen so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder, Kinder ausgenommen (und vielleicht sogar die), weiß, dass auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer."

Michael Cunningham gelingt die dezente Verflechtung der Dinge und Gedanken, die die drei Frauen verbinden, allesamt grundauf verschiedene Persönlichkeiten. Dank feiner Details wechselt er nahtlos zwischen den drei Frauen hin und her und verknüpft damit die verschiedenen Handlungsstränge und Zeitebenen.

Der Roman "Die Stunden", für den Cunningham unter anderem den PEN/Faulkner Award und den Pulitzerpreis erhielt, ist fantastisch geschrieben und verknüpft drei Leben auf sehr kunstvolle Weise. Damit kreiert er eine raffinierte Geschichte. Am Ende laufen alle Fäden zusammen und man ist überrascht und zugleich erfreut über diese gelungene Konstruktion.

Titelbild

Michael Cunningham: Die Stunden. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen vonGeorg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
296 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3630870619

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