Inszenatorische Spiele freigesetzter Textwelten

Andreas Böhns Theorie des Formzitats

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts prägt die Literatur der Moderne so stark wie das Gefühl, im Zitat leben zu müssen. Sich der Welt nur noch über die Kombination kultureller Versatzstücke nähern zu können, hat sich als Herausforderung und Last eines hohen Zivilisations- und Bildungsniveaus erwiesen - und als Impuls für manch romantische Fluchtbewegung zu den Urlauten vermeintlicher Authentizität. Das Zitat ist der "uneigentliche Ausdruck", die historische Verbürgung eines Gedankens, Empfindens oder Erlebens. Doch bekanntlich kann nicht nur ein Inhalt zitiert werden, sondern auch eine Form: Gerade in der postmodernen Architektur ging es oft darum, Stile und Strukturelemente vergangener Epochen zu übernehmen und in ein aktuelles Grundprinzip zu integrieren. Im Bereich der Literatur sind solche Formspiele noch wenig analysiert worden; in der Intertextualitätsforschung und der Gattungstheorie wurden zwar die Möglichkeiten formaler Entlehnungen vermerkt, doch eine theoretische Grundlage zur Beurteilung der textstrategischen Funktion ahistorischer Formentscheidungen hat bisher gefehlt. Dieses Desiderats hat sich der Mannheimer Literaturwissenschaftler Andreas Böhn in seiner Habilitationsschrift angenommen und ein Konzept des "Formzitats" entwickelt, mit dem er die Dynamik von Gattungserneuerungen und -mischungen sowie die kulturgeschichtlichen Implikationen von Parodien und Pastiches erläutern und ergänzen will.

Die Arbeit definiert zunächst den Begriff des Formzitats, unterscheidet Äußerungs-, Ausdrucks- und Codezitate und illustriert ihre Spezifik an Texten von E. T. A. Hoffmann ("Kater Murr"), Thomas Mann ("Doktor Faustus") und Ludwig Tieck ("Der blonde Eckbert", "Des Lebens Überfluß"). Dabei will Böhn deutlich machen, dass die Technik des Formzitats unterschiedliche Effekte erzielen kann, sei es als Steigerung einer parodistischen Gestaltung, als Unterstützung von Stilzitaten oder auch nur als "Durchgangsstation" bei Gattungserneuerungen. Das "ästhetische Potential", das dem Formzitat dabei zugesprochen wird, bleibt in den handverlesenen Beispielen dann aber doch recht diskret, auch wenn das entsprechende Kapitel mit der Mahnung endet, dass, wer den "Blonden Eckbert" nur von der "späteren Geschichte des romantischen Kunstmärchens her" sehe, oder "wer die beiden Hälften des ,Kater Murr' auf die Parodie des klassischen und die Fortführung des romantischen Bildungsromans" aufteile, "leicht die innovative Leistung der Texte" verkenne und "ihr komplexes Verhältnis zu Formtraditionen" simplifiziere.

Der darauf folgende Ansatz, "Kulturgeschichte als Formengeschichte" zu lesen und nach den "anthropologischen und historischen Bedingungen und Funktionen" des Formzitats zu fahnden, lässt mehr Aufschluss über Sinn und Kern der neuen Theorie erwarten. In Anlehnung an das Zeichenmodell von Peirce, das Gedächtniskonzept von Warburg, den Formbegriff von Luhmann und den Kulturbegriff von Wild wird hier die "Semiotisierung von Formen" und ihre "Defunktionalisierung und Refunktionalisierung" erörtert, um das Formzitat als Versuch deutlich werden zu lassen, die zitierten Formen von ihrem einst pragmatischen Kontext zu lösen und dissonant in andere Kontexte zu stellen - eine "Strategie" der "Konfliktmodellierung" sei das. Dass ästhetisches Erleben dadurch "im Vollzug relativiert" wird, leuchtet ebenso ein wie die Vermutung, das Formzitat entspringe einem "inszenatorischen Spiel". Jenseits der oft redundanten und hoch abstrakten Herleitungen findet Böhn zu einer wirkungsästhetisch relevanten Pointe: Er siedelt die "ästhetische Reflexivität und Thematisierung des kulturellen Gedächtnisses durch das Formzitat" in der Wirkung oberhalb von metasprachlichen Thematisierungen und Problematisierungen des Gedächtnisses an und kommt zu dem Schluss: "Das Formzitat ist poietisches Handeln, das den Vordergrund des in einer Gesellschaft Bewußten und Kommunizierten mit dem Hintegrund des im kulturellen Gedächtnis Gespeicherten in einer Weise verbindet, die letzteres nicht einfach reaktiv in die gegebene Situation integriert, sondern die Differenz von Vordergrund und Hintergrund, Gegenwart und Vergangenheit ästhetisch erfahrbar macht und somit eben die Interessiertheiten des Erinnerten und des Erinnerns thematisieren kann."

Das ist, mit Verlaub, nichts anderes als eine banale Einsicht des gesunden Menschenverstandes, die hier ihren wissenschaftlichen Ausdruck auf höchstem Sprachniveau gefunden hat. Das Problem, dass hier zumeist Offenkundiges zu einer hoch kompliziert erscheinenden Theorie hochgefahren wird, begleitet die gesamte Darstellung. Denn in den rein theoretischen Passagen wird mit Beispielen gegeizt, die den Erkenntnisgewinn sinnfällig vor Augen führen könnten, und die Kapitel der praktischen Anwendung warten nicht gerade mit interpretatorischen Überraschungen auf, sondern stützen mit ihren gründlichen Überlegungen zur Strategie der Formverwendung lediglich solide hermeneutische Auslegungen. In der Konzentration auf "emblematische Strukturen als Formzitate" gelingt es Andreas Böhn dann jedoch, über die Auseinandersetzung mit der Form auf geschichtsphilosophische Grundierungen in Texten von Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke aufmerksam zu machen, die ohne ihn vermutlich übersehen worden wären. Wenn Heine in seinen 1831 erstmals erschienenen "Neuen Gedichten" die veraltete Form des barocken Emblems wählt, kann dies mit Böhn (und Benjamin) als Illustrierung von Geschichte als "Trümmerlandschaft" gelesen werden, weil die historische Kluft zwischen zitierter Form und ideellem Kontext "erfahrbar" gemacht worden ist. Und auch in Rilkes "Neuen Gedichten" übermittelt die paradoxe Verwendung emblematischer Strukturen plötzlich eine gewichtige Aussage: dass nämlich "ein Höchstmaß an Sinnhaftigkeit" zu Beginn des 20. Jahrhunderts "nur noch um eines Höchstmaßes an Zweifelhaftigkeit willen zu haben ist".

So hat die Arbeit, die des weiteren noch Brechts "Kriegsfibel" und Rühmkorfs "Kleine Fleckenkunde" perspektivisch analysiert, das nicht zu unterschätzende Verdienst, die Aussagekraft der Form und das Formzitat als Spiel mit historisch-philosophischem Hintergund wiederentdeckt und für weitere Untersuchungen systematisch aufbereitet zu haben. Für die unendliche Geschichte der Form-Inhalt-Debatten dürfte sie gewinnbringende Impulse liefern. Gleichwohl ist anzumerken, dass die Form eines ausführlichen Aufsatzes dem Gehalt und Gewinn der Theorie vielleicht angemessener gewesen wäre als die vorliegende Monographie, die auf einer eher schmalen Materialbasis allzu viel Wissenschaft inszeniert.

Titelbild

Andreas Böhn: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2001.
208 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3503049991

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