Seine Werke sind unsere Wächter

Jost Hermands instruktive Arbeiten zu Bertolt Brecht

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Essaysammlung ist in vielerlei Hinsicht höchst bemerkenswert. Sie beeindruckt zunächst einmal dadurch, dass hier eine kontinuierliche produktive Beschäftigung mit dem Werk Bertolt Brechts dokumentiert ist, die den erstaunlichen Zeitraum von mehr als 40 Jahren (von 1957 bis 2000) umfasst. Das Ganze ist chronologisch geordnet, so dass man stets die jeweiligen historischen Phasen - vom Höhepunkt der Ära Adenauer bis zur unmittelbaren Gegenwart - nachvollziehen kann. Ferner ist die Bandbreite der Analysen und Darstellungsformen beachtlich: Neben umfassenden Stückanalysen (etwa des "Puntila") stehen eingängig und pointiert geschriebene Besprechungen von Theateraufführungen, neben wichtigen Rezensionen und Polemiken stehen Artikel, Vorträge und Reden, die sich zentralen (oft immer noch vernachlässigten) Konzepten bei Brecht widmen - etwa seiner "Tui"-Kritik, der Kategorie des Volkstümlichen, Brechts Bearbeitungstechnik, dem Utopischen, der "Lebenskunst" oder der Überwindung der Bürgerlichkeit. Fast immer gelingt es Hermand dabei - und das gibt dem Ganzen die imponierende Einheitlichkeit - die Kernpunkte der politischen Ästhetik und der dahinter stehenden Haltung Brechts so zu akzentuieren, dass ihre Aktualität deutlich wird.

Dies trifft bereits auf den frühesten Beitrag zu, einen Vortrag, den Hermand als frisch promovierter Germanist auf dem Höhepunkt der Adenauer-Ära in Marburg hielt, um das im Westen teils ignorierte, teils als stalinistisch verschrieene Werk Brechts überhaupt erst einmal in einigen Grundzügen vorzustellen. Dabei rückt Hermand die Frage in den Vordergrund, inwieweit Brecht seinen "Nihilismus", also seine antibürgerlich-kritische, aber perspektivlose Haltung der frühen Zwanziger Jahre im Zuge seiner Hinwendung zum Marxismus wirklich überwunden habe. Für die sechziger Jahre legt der Autor keine Arbeiten vor, doch das Interesse an Brecht stieg in dieser Zeit auch im Westen sprunghaft an, man denke an die 1967 bei Suhrkamp erschienene 20bändige Werkausgabe und ihre enorme Resonanz. Es kam außerdem zur Gründung der Internationalen Brecht-Gesellschaft und des Brecht-Jahrbuchs, für das Hermand als Mitherausgeber eine ganze Reihe von Rezensionen, Aufführungsberichten sowie wegweisenden Artikeln lieferte, die sich dem Utopischen bei Brecht (1974), der Frage von 'Tuismus' versus Volkstümlichkeit (1975) oder Brechts Verhältnis zu den Bildenden Künsten (1978) widmeten. Alle diese Texte vermitteln einen Eindruck davon, wie beflügelnd die Impulse der (internationalen) Studentenbewegung wirkten und wie sehr diese den Boden für politische Fragestellungen bereitete. Auch wenn die Studentenbewegung scheiterte und im Sande verlief, konnte man doch, wie Hermand formuliert, für einige Jahre mit dem Gefühl arbeiten, "das Prinzip Hoffnung auf seiner Seite zu haben".

Sehr bald sollte es freilich darum gehen, gegen die angebliche "Brecht-Müdigkeit" anzuschreiben, die in Wahrheit eher den Rückzug in die Innerlichkeit oder die eigene Identität signalisierte. Doch auch in dieser Phase gelingen Hermand große Essays, so zur Bearbeitungstechnik Brechts, zum Brecht-Bild bei Peter Weiss oder zu Brecht als "Lehrer der Unbürgerlichkeit", wobei vor allem in diesem Aufsatz herausgestellt wird, wie sehr es Brecht in Leben und Werk um die Überwindung bürgerlicher Privategoismen und die Entwicklung sozialer, ja sozialistischer Tugenden wie Solidarität, politisches Engagement und Einsatz für soziale Gerechtigkeit ging. Schließlich sind es auch solche Werte, die im Hintergrund stehen, wenn Hermand in diversen Beiträgen aus den Neunzigern Stellung bezieht gegen die um sich greifende Tendenz, einen modisch dekonstruierten, subjektorientierten, "anderen" (d. h. nicht mehr sozialistischen) Brecht zu kreieren; so kreisen Hermands Arbeiten aus diesen letzten Jahren um das solidarische Verhältnis in den Beziehungen, die Brecht mit so unterschiedlichen Künstlern wie Arnold Zweig, Hanns Eisler oder Walter Felsenstein unterhielt oder Fragen des ökologisch Verträglichen und einer darauf basierenden Lebenskunst. So betrachtet, könnten (und sollten) auch heute Brechts Werke "unsere Wächter" sein, wie Hermand mit einem schönen Zitat verdeutlicht, d. h. sie könnten auch unter der heute drohenden politischen und kulturellen Depravierung davor bewahren, mutlos zu werden oder eine unpolitische Haltung einzunehmen.

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Jost Hermand: Das Ewig-Bürgerliche widert mich an. Brecht-Aufsätze.
Theater der Zeit, Berlin 2001.
384 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3934344097
ISBN-13: 9783934344099

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