Von den "Stillen im Lande"

Eine Entdeckung zur Biographie Karl Philipp Moritz'

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aussergewöhnliche Roman "Anton Reiser" des Aufklärers und Prä-Romantikers Karl Philipp Moritz (1756-1793) hat noch keine seinem literarischen Rang entsprechende Würdigung in der Lesegeschichte der deutschen Literatur gefunden. Wiewohl immer wieder aufgelegt, verblieb das Werk ausserhalb der Selbstverständlichkeit, mit der die zeitgleich schreibenden Klassiker eine weitgehend kontinuierliche Beachtung fanden. Auch sein Autor ist bis heute eine eher unbekannte Größe in der Gemengelage zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik geblieben. Über sein Leben erfahren wir aus seinem melancholischen Meisterwerk, einem "psychologischen Roman", der sich eng an die Kindheits- und Jugendbiographie seines Autors anschließt.

Die Literaturwissenschaft hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus mit dem vielgestaltigen Werk von Moritz beschäftigt - eine umfangreiche Arbeit von Hugo Eybisch sammelte vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche biographische Dokumente und Zeugnisse, der französische Germanist Robert Minder promovierte 1936 mit einer Interpretation vor allem der geistes- und religionsgeschichtlichen Implikationen des "Anton Reiser", eine Arbeit, die später auch als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft aufgelegt wurde.

In den beiden letzten Jahrzehnten hat sich erfreulicherweise die Aufmerksamkeit für Werk, Autor und zeitgenössische Kontexte in der Germanistik erhöht. Nachdem Hans Joachim Schrimpf in den sechziger Jahren eine umfassende Sammlung der ästhetischen Schriften Moritz ediert hatte, rückte Lothar Müller 1987 die reflexive Kraft der Moritzschen Melancholie in den Mittelpunkt seiner Marburger Dissertation "Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis", Raimund Bezold schrieb zeitgleich über die popularphilosophischen Bezüge des Romans, und eine dreibändige Ausgabe der Schriften durch Horst Günther fand vor wenigen Jahren ihre notwendige Ersetzung durch eine gründliche Edition im Deutschen Klassiker Verlag. Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Gründung einer Karl Philipp Moritz-Gesellschaft projektierte der umtriebige Drucker und Verleger Franz Greno in den achtziger Jahren gar eine dreißigbändige Ausgabe, von der immerhin ein häufig verkaufter Nachdruck der von Moritz begründeten und die moderne Psychologie in Deutschland inaugurierenden Zeitschrift "Magazin zur Seelenerfahrungskunde" realisiert wurde.

Im Schwerpunkt "18. Jahrhundert" des Wehrhahn Verlags liegt nun von Christof Wingertszahn, verantwortlicher Koordinator einer von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten historisch-kritischen Werkausgabe, die Edition zweier Briefe vor, die eine kleine Sensation darstellen. Die beiden Schreiben stammen von jenem Braunschweiger Hutmacher Lobenstein, in dessen Lehre der junge Anton Reiser im Roman seine ersten traumatischen Erfahrungen mit der Ausbeutung durch das frühkapitalistische Handwerkertum sowie - noch entscheidender - mit deren religiöser Bemäntelung im Milieu des radikalpietistischen Quietismus macht. Der reale Lobenstein berichtet in diesen Briefen an seine "Seelenführer" von Fleischbein und Klinckowström über die Konflikte mit dem renitenten Lehrbuben Karl, den sein ebenfalls im Netz der pietistischen Proselytenmacher zappelnder Vater in den Haushalt des Hutmachers gegeben hatte - eher zur religiösen Erziehung denn zur unbezahlten Maloche für den bigotten Frömmler. Zur "Pädagogik" des Handwerkers gehörten gegenüber dem "verstokten" Knaben auch die Züchtigung: "Da hat er Sich an gestelt als wen er Das wunder Krigen Sol und durch Das Seltsame betragen wurd ich ganz bange und Krigte eine widerlichkeit Davor".

Im Roman stellt ein Selbstmordversuch des adoleszenten Anton Reiser den Anlass für die Beendigung des Aufenthalts bei dem Handwerker dar, im Brief schreibt Lobenstein über den wirklichen Karl, dass er "Sagte imer von Todt machen Er wolte Sich ein Leid anthun" und schlussfolgert: "Überhaupt ein Kind von Teuflischer gesinnung". Dem späteren Autor fiel schon als Jugendlicher die seelenlähmende Melancholie dieses bigotten Milieus auf, wie es in den Briefen Lobensteins hervortritt.

Es ist faszinierend, nach über 200 Jahren zum ersten Mal in diesen Spiegel des Romans zu blicken und Moritz' Biographie aus der Perspektive eines zeitweilig entscheidend Beteiligten wahrzunehmen. Dass dieser Hintergrund der an den Schriften der französischen Pietistin Madame de Guyon orientierten deutschen Quietisten für Moritz' Konzept seines "psychologischen Romans" durchaus als Negativ-Folie konstitutiv wurde, hatte bereits Robert Minder gezeigt. Wie der Quietismus aber "funktionierte", arbeitet Wingertszahn in einem detaillierten und kritischen Porträt des Seelenführers von Fleischbein, der auch in "Anton Reiser" erwähnt wird, und des Hutmachers heraus.

Möglich wird diese neue Sicht auf diese deutsche Form des Radikalpietismus, der auf eine fast pathologische Negierung des eigenen Willens bei seinen Anhängern, den "Michelein", hinarbeitete, durch neue Quellenfunde, insbesondere den in der Schweiz aufgetauchten Nachlass von Fleischbeins, die sehr viel präziser die sozialen und mentalen Umstände erkennen lassen, in deren Abwehr Karl Philipp Moritz sich zu einem der zentralen Autoren nicht nur jener Epoche bildete. Wie von Wingertszahn angedeutet, stehen noch einige weitere auf diesen Funden basierende Neu-Editionen bevor, darunter auch die oben erwähnte historisch-kritische Ausgabe des Romans Ende 2002 im Niemeyer Verlag. Zumindest in der Germanistik wird nun auf erweiterter Quellenbasis jener Autor rekonstruiert, dessen weiteres literarisches Werk sowie seine Arbeiten zur Psychologie, Ästhetik und Pädagogik immer noch der Aufnahme in den literarischen Kanon harren.

Titelbild

Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die "Michelein". Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2002.
128 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3932324595

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch