Mittelalterliches Faktensammelsurium

Maike Vogt-Lüerssen über den Alltag im Mittelalter

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Einblick ins alltägliche Leben des Mittelalters geben, und dies auf "wissenschaftliche, aber trotzdem leicht verständliche und leicht lesbare" Weise - dieses ergeizige Ziel hat sich Maike Vogt-Lüerssen in dem vorliegenden Band "Der Alltag im Mittelalter" gesteckt.

In elf Kapiteln stellt sie verschiedene Elemente des mittelalterlichen Lebens dar. Einige dieser Kapitel sind rein sachgeschichtlich etwa auf Kleidungs- oder Essgewohnheiten bezogen, andere behandeln das Leben bestimmter sozialer Gruppen ("Leben der Bauern auf dem Land", "Leben im Kloster", "Stadtluft macht frei"), wieder andere beschäftigen sich mit dem allgemeinen öffentlichen Leben und seinen Institutionen, wie etwa dem Strafwesen, den Bildungseinrichtungen und dem Gesundheitssystem.

In ihrer Themenwahl gelingt es der Autorin recht gut, die wichtigsten Lebensbereiche abzudecken. Allerdings fehlt eindeutig ein Kapitel zu dem im Mittelalter eminent wichtigen Bereich religiöser Vorstellungswelt und Praxis - Religion wurde schließlich bei weitem nicht nur in Klöstern aktiv gelebt. Auch bei der Gewichtung der einzelnen Kapitel hat sich Vogt-Lüerssen teilweise zu sehr von ihren eigenen Präferenzen (oder vom vermuteten Leserinteresse?) leiten lassen: so ist aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht ganz einzusehen, warum dem Thema "Ehe und Scheidung, Sexualität und Liebe" ganze vierzig Seiten gewidmet werden, dem "Leben der Bauern auf dem Lande" dagegen nur vierzehn und der "sozialen Struktur im Mittelalter" nur sechs.

Die einzelnen Kapitel sind aufwändig illustriert (insgesamt enthält der Band 129 schwarz-weiße Abbildungen), oft werden längere Quellenzitate jeweils in neuhochdeutscher Übersetzung angeführt; am Ende der einzelnen Unterkapitel stehen weitere Literaturhinweise oder Empfehlungen für Ausflugsziele. Die Konzeption des Bandes ist also durchaus dazu angetan, dem Leser ein anschauliches, eindrückliches Bild des mittelalterlichen Alltags zu vermitteln.

Das an und für sich angemessene und gute Konzept nimmt in seiner Umsetzung jedoch erheblichen Schaden durch die Tatsache, dass die Autorin sich nicht an das von ihr selbst aufgestellte Programm der (populär-) wissenschaftlichen Darstellung hält. Zum einen geht sie wie bereits erwähnt bei der Auswahl des zugegeben sehr umfangreichen Materials äußerst selektiv vor: sie bevorzugt eindeutig das Anekdotische, Saftig-Skandalöse gegenüber dem Nüchtern-Informativen und präsentiert dem Leser grundsätzlich lieber die Ausnahme als die Regel. Darüber hinaus bringt sie ihren nach Unterhaltungswert ausgewählten Quellen eine fast schon naiv zu nennende Gutgläubigkeit entgegen. Eine Quellenkritik wird von Vogt-Lüerssen bei keinem der von ihr präsentierten Texte vorgenommen, so dass der Leser weder über den jeweiligen Kontext noch über die Glaubwürdigkeit des dargestellten Materials informiert wird. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, gibt sich die Autorin dann noch nicht einmal mehr den Anschein, ihre Informationen neutral und unparteiisch zu präsentieren, sondern garniert ihre Histörchen mit überdeutlichen bis drastischen Wertungen.

Eindrucksvoll demonstrieren läßt sich diese wenig wissenschaftliche Vorgehensweise etwa im zunächst eher nicht kontrovers erscheinenden Kapitel "Essen und Trinken: Getreidebreie, Stockfisch und Schweinsköpfe". Unter "Die unterschiedlichen Methoden der Speisezubereitung" zitiert Vogt-Lüerssen das Rezept "Lebender Gänsebraten", welches das Geheimnis verrät, wie man eine Gans so braten kann, dass sie dabei am Leben bleibt und anschließend ihren Verzehr bewusst miterlebt. Warum - wenn nicht aus Sensationsgier oder Effekthascherei - die Autorin dieses Beispiel überhaupt anführt, bleibt einigermaßen schleierhaft: Bei dem schon rein praktisch nicht durchführbaren Rezept handelt es sich wohl kaum um die damals typische Zubereitungsart von Gänsen und noch viel weniger um einen klassischen Bestandteil des mittelalterlichen Speiseplanes. Sie beschränkt sich jedoch nicht darauf, das Rezept als Kuriosität zu erwähnen, sondern beendet die überflüssige Darstellung von "Lebender Gänsebraten" noch dazu wie folgt: "Hoffen wir, daß dieses Rezept nur von dem sadistisch, psychisch-schwerkranken Rezepterfinder ausprobiert wurde".

Ähnlich differenzierte und sachliche Informationen hält Vogt-Lüerssen auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in Sachen Kirche und Sexualität bereit: Die "Lust- und Sexualfeindlichkeit" der Kirche "und die Psychosen der Geistlichen in bezug auf ihre eigene Geschlechtlichkeit führten schließlich gegen Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit zum Hexenwahn, dem viele unschuldige Frauen zum Opfer fielen"; oder auch: "Je stärker sich die Kirche in die Hochzeitszeremonien einmischte, um so mehr breitete sich die ,Verzauberungsimpotenzangst' aus. [...] Aus Angst vor dieser Hochzeitsnacht klappte sexuell sowieso nichts mehr. Geschickt gemacht, nicht wahr?".

Bei dieser ausgeprägten Urteilsfreudigkeit seitens der Autorin scheint es da nur konsequent zu sein, dass selbst die weiterführende Bibliographie von ihr mit einer Art Schulnotensystem bedacht wird, welches jedoch für den Leser völlig undurchsichtig bleibt: warum wohl erhält Daniel Defoe für seinen "Bericht vom Pest-Jahr" ein "sehr gut!", ebenso wie Abaelard für seinen Briefwechsel mit Héloise, Boccaccio für das "Decameron" jedoch nicht? Da in keinem Fall die entsprechende Wertung näher spezifiziert oder begründet wird kommt man als Leser kaum umhin, diese lediglich als Geschmacksurteil der Autorin aufzufassen, welches besser unterblieben wäre.

Als weiterer gravierender Mangel des Buches muss angeführt werden, dass es der Autorin in keinem der Kapitel gelingt, die beeindruckende Faktenvielfalt in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, dem Leser also sozusagen den sprichwörtlichen roten Faden anzubieten, der ihn durch den Dschungel der mittelalterlichen Alltagswelt führen könnte. Additiv wird lediglich eine Vielzahl von Daten aufgereiht, eine Auswertung oder Deutung wird nicht geleistet; es werden zwar viele Sonderfälle geboten, die Ableitung der allgemeinen Regel wird dann aber nicht vollzogen, so dass der entstehende Informationswust letztendlich spurlos am Leser vorüberzieht.

Neben so vielen inhaltlichen Kritikpunkten fällt es dann beinahe nur noch wenig ins Gewicht, dass auch bei der Redigierung und Lektorierung des Textes nicht die notwendige Sorgfalt an den Tag gelegt wurde: so werden Zeichensetzung und Satzbau eher kreativ gehandhabt, manchesmal gehören Illustration und Fließtext auf einer Seite thematisch nicht zueinander und auch inhaltlich ergibt sich der eine oder andere - unnötige - Lapsus, wenn beispielsweise bei der Beschreibung von Zeremonialgewändern die Alba einmal über und einmal unter Dalmatika getragen wird, oder sich die Autorin wie folgt über die Heiratsmöglichkeiten verschiedener Personengruppen äußert: "Ein absolutes Heiratsverbot bestand bei den Geistlichen, Epileptikern und Insassen von Siechenhäusern, also kranken und gebrechlichen Menschen, die auf Hilfe von außen angewiesen waren".

Als Fundgrube für kuriose Anekdoten und abseitige Quellen kann "Der Alltag im Mittelalter" sicherlich Einiges an interessanten Anregungen bieten. Um ein Sachbuch, welches dem populärwissenschaftlich interessierten Leser brauchbare Informationen über das Alltagsleben im Mittelalter liefern könnte, handelt es sich dagegen ganz sicher nicht: das Faible der Autorin für das Unterhaltsame hat sich im vorliegenden Band in einem solchen Maße durchgesetzt, dass von einer wissenschaftlichen Perspektive keine Rede mehr sein kann.

Titelbild

Maike Vogt-Lüerssen: Der Alltag im Mittelalter.
Verlag Ernst Probst, Mainz-Kostheim 2001.
273 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3935718276

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