Philosophie und Biopolitik

Volker Gerhardts Kleine Apologie der Humanität

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Philosoph Volker Gerhardt, seit 1998 im Vorsitz der Bioethik-Kommission der DFG und Vertreter der philosophischen Ethik im von Bundeskanzler Schröder einberufenen Nationalen Ethikrat, macht sich in seinem neuen Buch zum Anwalt der Biowissenschaften. In der Manier eines Pamphletisten denunziert er die grassierende "Doppelmoral politischer Moralisten", die sich in ihrem Gesinnungskampf für die Würde des Menschenlebens (und sei es im Anfangsstadium) auf der sicheren Seite der Guten wähnen und wirbt für eine die Lebenswissenschaften mit ruhiger Hand und pragmatischer Abwägung fördernde Biopolitik. Im Unterschied zu den großspurigen Apologeten der Humanität, die bereits mit der Verschmelzung von Samenzelle und Eizelle das (nach Artikel 1 des Grundgesetzes) schutzwürdige menschliche Leben beginnen lassen, will Gerhardt in seiner Streitschrift zeigen, dass die vielbeschworene Humanität in der Personalität ihr wesentliches Charakteristikum findet. Dabei stellt er die geläufige Argumentationsstruktur auf den Kopf: nicht die verbrauchende Embryonenforschung folgt dem Regelwerk eines "naturalistischen Positivismus", wenn sie vorgibt, sich nur mit biologischer Materie zu beschäftigen, sondern die konservativen Forschungsgegner sind es, die den Menschen auf eine biologische Tatsache reduzieren, wenn sie ihn mit einem "Zellhaufen" oder biochemischen Prozessen identifizieren. "Der Mensch wird geboren" - so lautet die auf Evidenz und gesunden Menschenverstand pochende Gegenthese.

Worum geht es? Im Mittelpunkt der aktuellen Debatten der Bioethik, in die sich Gerhardt einschaltet, steht die Frage, ob bereits das vorgeburtliche embryonale Leben im strengen Sinne menschliches Leben ist und somit volle Grundrechte genießt oder aber (vor der Nidation) Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden darf. Im Prinzip ist bei dieser Fragestellung vorausgesetzt, dass es möglich ist, zu einer ethisch vernünftigen Lösung der Probleme zu kommen. Ebenfalls vorausgesetzt ist, dass politische Entscheidungsfreiheit besteht, die ethisch gebotenen Lösungen in die Praxis umzusetzen. Weil diese Voraussetzungen aber faktisch nicht erfüllt sind, spricht man gerne von einer ökonomischen und wissenschaftlichen Eigendynamik, die stets die moralischen Grenzen (oder den sprichwörtlichen "Rubikon") überschreitet, die man ihr vergeblich zieht. Und so räumt man dem Geschehen opportunistisch einen Platz ein, ohne diese "Einräumung" einzuräumen. Eine fatale Situation.

Gerhardt reagiert auf diese missliche Lage, indem er den Opportunismus noch einmal steigert. Denn diejenigen Ethiker, die den Entwicklungen innerhalb der Biotechnologie nur mit hastigen Grenzziehungen begegnen, halten - in Gerhardts suggestiver Rhetorik gesprochen - traditionalistisch an den Maßstäben einer vergangenen Welt fest, anstatt sich mit gesundem Selbstvertrauen verantwortungsbewusst der Zukunft zuzuwenden. Sie haben Angst vor dem vermeintlichen "Ende des Menschen" und verfallen damit den "Sensationalismen des Zeitgeistes". Demgegenüber begreift Gerhardt seine "kleine Apologie der Humanität" als Plädoyer für einen unerschrockenen und aufgeklärten Umgang mit den neuen und neuesten Erkenntnissen der Lebenswissenschaften zum Nutzen der Menschheit. Die conditio humana stellt demnach einen unhintergehbaren normativen Begriff dar, der nicht ernsthaft von den jüngsten Fortschritten der Humangenetik in Frage gestellt ist. Der Mensch, der seine eigene Zukunft selbst bestimmt, setzt sich in der Erreichung seiner Ziele selbst mit voraus.

Die Schlüsselfrage der Biopolitik bezieht sich laut Gerhardt auf das mit der biowissenschaftlichen Wende verbundene Novum, dass der Mensch vor der Möglichkeit steht, "aus sich ein Wesen zu machen, das nicht mehr menschlich ist." Wie kann sich die Menschheit vor einer Selbstveränderung schützen, die mit ihrer Selbstabschaffung einhergeht? Gerhardt beantwortet diese Frage im Vorübergehen, indem er auf die Kraft des Rechts und auf die Wirksamkeit politischer Institutionen verweist. Aus der Perspektive der Vernunft geurteilt sind die Möglichkeiten der Eugenik beschränkt, weil die Freiheit des Menschen mit seinem politischen und personalen Selbstverständnis zusammenhängt. Die Unmöglichkeit einer Überwindung des Menschen ergibt sich für Gerhardt aus der im menschlichen Sein verankerten Vernunft: dabei handelt es sich nicht um ein ethisches Postulat, sondern um eine anthropologische Devise. "Auf diesen einfachen Sachverhalt [der notwendigen Selbsterhaltung der Vernunft; Vf.] gründet sich die unbedingte Schutzwürdigkeit des Menschen: Wenn er ein Wesen ist, das Vernunft hat, dann hat er mit seiner Vernunft alles daranzusetzen, seine Vernunft zu sichern. Dies aber schließt seine Selbsterhaltung als leibhaftig-lebendiges Wesen ein." Alle Fortschritte in Lebensforschung und Lebenstechnik stehen, so Gerhardt, vorab in der Handlungsperspektive des Menschen.

Mit dem Begriff der Person trägt Gerhardt seinen Überlegungen zur (aristotelischen) Bestimmung des Menschen als zoon politikon und zoon logon echon Rechnung. Ein Individuum ist Person, wenn es mit Vernunft begabt ist und sich im Kontext sozialen Handelns durchgängig als Einheit begreift, so dass es für sein Tun Verantwortung übernehmen kann. Deswegen sind "ungeborene Zellhaufen" keine Personen und insofern nicht vor dem experimentellen oder selektiven Verbrauch zu schützen. Aber inwiefern besitzt das neugeborene Baby in dieser Perspektive einen personalen Status? Wenn es nicht einsichtig ist, das embryonale Leben mit dem Leben des Menschen auf eine Stufe zu stellen, ist es dann einsichtiger, die Neugeborenen zu den Personen zu zählen? Gerhardt führt zur Stützung seiner These an, dass "man" erst nach der Geburt über seinen eigenen Leib verfügt, ihn "gebrauchen" kann. Auf diesem Gebrauch beruht aber die menschliche Eigenständigkeit, die Bedingung von Selbstbestimmung und "personalen Würde" ist. Vor der Geburt wäre der Körper "noch nicht in seiner Andersartigkeit erfahrbar". Gerhardt macht in der Geburt den eigentlichen Akt der Individuation aus, wodurch etwas völlig Neues beginnt: "Der Schutzraum des anderen Leibes wird in einem quälenden Vorgang verlassen, die nährende Verbindung zur Mutter reißt ab [...]. Es atmet erstmals selbst. Und damit kann es auch zum ersten Mal seine Stimme, das 'Organ der Vernunft' ertönen lassen." Wenn wir unsere Lebensgeschichte zu erzählen haben, dann beginnen wir nicht mit pränatalen Begebenheiten, sondern mit der Geburt - und außerdem feiern wir nicht "Zeugungstag", sondern "Geburtstag", wie Gerhardt sinnreich bemerkt. Hinzu kommt, dass die Parallelen zur Tierwelt schlagend sind: nicht schon das Ei, sondern erst das geschlüpfte Küken wird als Vogel bezeichnet. Nur im Falle der Beuteltiere wäre eine Ausnahme zu machen, weil diese ihre "Föten" nach der Geburt noch eine Weile in ihren Felltaschen mit sich herumschleppen.

Ist diese Argumentation überzeugend? Können und wollen wir ausschließlich Personen als Menschen gelten lassen - und damit gleichzeitig verbinden, dass das vorpersonale Leben eine signifikant geringere Schutzwürdigkeit besitzt? Markiert die Geburt den Beginn des personalen Seins? Bevor wir allzu eilig in den Ring springen und das Für und Wider erwägen, empfiehlt es sich, einen Augenblick innezuhalten. Natürlich: die modernen Felltaschen liegen im Kinderwagen - der neugeborene Säugling wird (in der Regel) von seiner Mutter genährt und lebt in hohem Maße aus der Geborgenheit, die ihm die Eltern gewähren. Andererseits besitzt das Kind, das sich im Mutterleib nach allen Richtungen dreht und gegen die Bauchdecke und anderswohin tritt, bereits genug "Selbständigkeit". Damit ist es durchaus als eigenständiges Wesen erkennbar. Das Strampeln und Krabbeln ist nicht mit einer vernunftgeleiteten Verfügung über den eigenen Körper zu verwechseln und das Schreien nicht Ausdruck philosophischer Rede. Den Geburtstag kann man sich (als kulturspezifisches Produkt) vollends sparen; schließlich feiern wir auch Ostern und Weihnachten. Soweit ist die Darlegung Gerhardts unplausibel. Dagegen wird sie auf Zustimmung stoßen, wo sie die Diskrepanz zwischen dem an personalen Kriterien orientierten Menschenbild und dem vorgeburtlichen Leben herausstellt. Die Frage ist nur: was folgt daraus?

Gerhardt bedient sich in seiner Argumentation eines häufig verwendeten, ebenso einfachen wie genialen Schachzugs: er verknüpft die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs mit der verbrauchenden Embryonenforschung und fordert eine Beurteilung nach gleichen Kriterien. Das Verbot, an embryonalen Stammzellen zu forschen, das prinzipiell durch das Schwangerschaftsurteil aus dem Jahr 1975 und seine Festlegung auf den menschlichen Lebensbeginn mit der Kernverschmelzung verhängt wurde, ist laut Gerhardt nicht gerechtfertigt. Es ist weder argumentativ noch faktisch ("Derogation") gerechtfertigt. Die Abtreibungsformel "rechtswidrig aber straffrei" steht seiner Auffassung nach für "Verfassungslyrik" (Nida-Rümelin) und verweist auf die oben angesprochene "Doppelmoral" der Befürworter sowohl von Abtreibung als auch von Embryonenschutz. Wenn die Zygote (sowie die Blastozyste) bereits grundrechtlich geschützt ist (durch Artikel 1 und 2 der Verfassung), dann ist nicht nur die Forschung an Embryonen untersagt: "auch jeder das Leben des Embryos gefährdende Umgang mit ihnen müsste unterbleiben. Also müssen nicht nur empfängnisverhütende Mittel nach der Kernverschmelzung verboten sein [z.B. die 'Pille danach'; Vf.], sondern jeder Abort." Generelle Verbote des Schwangerschaftsabbruchs sind aber gesellschaftlich nicht durchsetzbar, woraus folgt ...

Für den biopolitischen "deutschen Sonderweg" sind nach Gerhardt konfessionelle (und das heißt: dogmatische) Gründe verantwortlich - und damit für das "Forschungsdilemma" oder die "Forschungsblockade" hierzulande. Nicht nur positive Eugenik, sondern auch (embryonenverbrauchende) Forschung zu therapeutischen Zwecken sind nämlich unterschiedslos verboten. Diese Situation ist Gerhardt zufolge indiskutabel und unhaltbar: sie führt nicht nur wissenschaftspolitisch in die "nationale Isolation"; sie verspielt darüber hinaus zu erwartende medizinische Fortschritte und Heilungschancen schwerer Krankheiten. Hinzu kommt, dass die Forschungsfreiheit allzu rigoros beeinträchtigt wird. Schließlich gilt für jede Forschung, "dass man erst einmal in Erfahrung bringen muss, zu welchen Ergebnissen sie führt" - wie Gerhardt zustimmend eine Rede des US-Präsidenten Bush zitiert.

Die ethische Unbedenklichkeit "bloßer Forschung", die Gerhardt stellenweise für seine Argumentation reklamiert, lässt sich aber nicht durchhalten: "Nach allem, was wir über den Menschen wissen, ist sicher, dass er das, was er zu tun gelernt hat, auch ausführen wird." Warum sollte man also der wissenschaftlichen Forschung den Unbedenklichkeitsschein ausstellen? Weil es in der Tat keine Alternative zu ihr gibt? "Wenn die Forschung mit embryonalen Stammzellen medizinische Fortschritte bringt, dann wird sie natürlich weiter gefördert, unbeschadet der Tatsache, dass seine moralischen Bedenken fortbestehen." Die Vernunft wäre somit - entgegen den dezidierten Behauptungen Gerhardts und in Einklang mit meinen Überlegungen zur "Macht der Faktizität" - nicht imstande, den Fortschritt zu kontrollieren. Gerhardts Schlingerkurs kommt vollends zum Vorschein, wenn er angesichts der eingestandenen Unkontrollierbarkeit des Geschehens trotzdem auf die Steuerungskompetenz der Politik vertraut. Wie sich bei den Kernwaffen gezeigt haben soll, "ist es also die Politik, die den Gebrauch der Vernichtungstechnik verhindert". Diese antiquierte Rüstungsideologie - mit ihrer Ignoranz gegenüber den realen Ängsten und Risiken und mit ihrer unverständlichen Vergesslichkeit - mischt sich mit dem fürsorglichen Rat an die christlichen Kirchen, "dass der beste Schutz für das werdende Leben wohl in dem liegt, wofür sie eigentlich zuständig sind, nämlich in der Liebe und in dem Glauben an eine höhere Macht." - Ja dann ist ja alles gut.

Das wäre ein schöner Schluss gewesen. Doch es ist notwendig, an dieser Stelle noch einmal auf die von Gerhardt konstatierte Diskrepanz zwischen dem Embryo und der Person einzugehen. Die Schwierigkeit, nach personalen Kriterien über die Schutzwürdigkeit von Embryonen zu entscheiden, ergibt sich daraus, dass auch bei Säuglingen und Kleinkindern, körperlich oder geistig Behinderten und Kranken, Schlafenden oder Ohnmächtigen diese Kriterien nicht ohne weiteres gelten. In einem weiteren Schritt stellt sich die Frage, warum überhaupt die Personalität die absolute Schutzwürdigkeit des Menschenlebens definieren soll. An diesem Punkt wechselt Gerhardt die Argumentationsebene: nunmehr sind es die Aussichten auf Fortschritte in der medizinischen Entwicklung, die gegen das Lebensrecht der Embryonen ausgespielt werden. Sowohl die humanitäre als auch die evolutionäre Begründung werden dabei von Gerhardt in Anspruch genommen: im Hinblick auf die bevölkerungspolitische Tilgung von Erbkrankheiten und auf die individuelle Wohlfahrt möglicher Nachkommen mittels selektiver Verfahrensweisen der Präimplantationsdiagnostik.

Das normative Bild des Menschen aber, das die Gattungsmerkmale des normalen Aussehens, Verhaltens und der Gesundheit definiert, wird von Gerhardt völlig unbedenklich in Anspruch genommen. An dieser Stelle rächt es sich, dass die Arbeiten Foucaults zur Biopolitik von Gerhardt nicht zur Kenntnis genommen werden, wie bereits Dieter Thomä in der "Zeit" (12.3.2002) völlig zurecht monierte. Im philosophischen und geschichtlichen Denken Foucaults bedeutet "Biopolitik", dass seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung als solche (nicht der Mensch als Individuum, sondern als Gattungswesen) zum Gegenstand der Politik (Geburtenkontrolle, Hygiene, Volksgesundheit etc.) geworden ist. Unter diesem Blickwinkel ist es möglich, nicht nur die ökonomischen Entwicklungen im Umfeld der Gentechnologie zu berücksichtigen und zu analysieren (Stichwort: "Kommerzialisierung des Körpers"), sondern auch die gesellschaftliche Norm (bzgl. Gesundheit, Schönheit, Effizienz, Ausgeglichenheit, u. a.) auf Normalisierungsprozesse zu beziehen. Hinter dem scheinbar unproblematischen und abstrakt-allgemeinen Begriff der Personalität verbergen sich Basiswerte für normales artgemäßes Funktionieren, die nach dem Bild der herrschenden gesellschaftlichen Normen gestaltet werden. Die Biomedizin, die vorgeburtliche genetische Korrekturen des "defekten" Lebens möglich macht, steht im Verbund mit der Stigmatisierung von Behinderungen, die nicht mehr als naturgegeben hingenommen werden müssen. Wäre es nicht ratsamer, die Norm des "lebenswerten Lebens" kritisch zu hinterfragen und darauf hinzuwirken, die soziale Akzeptanz unterschiedlichster Lebensformen zu steigern?

Titelbild

Volker Gerhardt: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
150 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 340648543X

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