PISA - Betrachtungen am Ende der deutschen Debatte

Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wollte man, gar mit wissenschaftlichem Zeugwerk, in Deutschland Aufruhr und Aufmerksamkeit erreichen, so sollten die Aufrührer tunlichst zwei Dinge nicht unterlassen: es sollte an der direkten Linie von Goethe und Schiller, Bach und Wagner zur kulturellen Disposition der heutigen Zeit kräftig gekratzt werden und überdies müsste erwähnt sein, dass im internationalen Vergleich Deutschland schlecht dasteht.

Warum gerade diese beiden Aspekte, die einen pathologischen Geschichtsdeterminismus mit einem unverdauten nationalen Überlegenheitsgefühl vor dem Hintergrund strikter bildungsbürgerlicher Werte paaren, so grundsätzlich für das deutsche Wesen sind, an dem die Welt genesen soll, kann hier kaum diskutiert werden. Entscheidend aber ist, dass mit der Veröffentlichung der PISA-Studie im Dezember des vergangenen Jahres genau diesen beiden Komplexe tangiert werden. Dazu kommt noch ein wichtiger Moment: Die Urheber der Studie können schwerlich von den wesentlichen Verwaltern des nationalen Selbstverständnisses als Nestbeschmutzer diskreditiert werden. Auch dieser letzte Punkt zu den Rahmenbedingungen erfährt seine Bedeutung aus den langen Debatten um Bildungsformen und Vermittlungswege, wie sie in Deutschland über die Jahre ausgeprägt wurden. Dabei hatte sich die Grundlage der Debatte in den letzten Jahren schon erheblich verschoben - hin zur Meinungsführerschaft von "BILD" und Konrad Adenauer-Stiftung, die wie ein befreiender Ruck ein Ende machten mit den wesentlichen Ansätzen zur Sozialisationsforschung, selbstorganisierten Bildungsmechanismen oder der Überlegung eine Sozialintegration durch Bildung gewährleisten zu wollen. Mit Roman Herzog kam am augenfälligsten eines der Grundtheoreme konservativer Bildungsphilosophie wieder zur Dominanzstellung im Ring des Bildungsdiskurses: das der Begabung.

Damit konnte gleichzeitig sozial segregiert und differenziert werden; im Blickfeld standen wieder Leistungseliten und disziplinierter Gehorsam. Aus den Theoriefragmenten dieser unheiligen Allianz bestand 16 Jahre die Bildungspolitik, die sich nach Willy Brand nur nicht so deutlich zu artikulieren vermochte. Allerdings, ist in den Worten des CDU Bildungsprogramms von 1994 nachzulesen:

"Das Bildungs- beziehungsweise Ausbildungssystem und das Beschäftigungssystem laufen zunehmend auseinander. Auf der einen Seite gibt es immer mehr Abiturienten, die ein wissenschaftliches Studium aufnehmen wollen, ohne dafür geeignet zu sein; auf der anderen Seite nimmt trotz des qualitativ hohen Standards der deutschen Berufsausbildung und guter Beschäftigungsperspektiven für Fachkräfte das Interesse der jungen Menschen an dieser Ausbildung ab. Aus dem Mangel an qualifizierten Fachkräften erwächst eine weitreichende Gefährdung der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft. Eine Korrektur der Bildungspolitik zugunsten berufsbezogener Bildung ist unverzichtbar" (CDU-Deutschland 1994).

Hochbegabtenförderung und Ablehnung von Gesamtschulen standen hier schon längst neben einem gezielten Kaputtsparen von Universitäten programmatisch auf dem Plan. Es musste allerdings ein langer Umweg genommen werden bis zum offenen Argument, dass zu viele, die es angeblich nicht verdienten, studierten und Schule überhaupt aus Kopfnoten und Schönschreiben zu bestehen habe. Das Ausmaß der Kapitulation der Sozialdemokratie kann sich gerade anhand der PISA-Debatte aufzeigen lassen, denn eine irgendwie relevante Linke gibt es tatsächlich nicht mehr. Die Debatte über Gesamtschulen wird angstvoll vermieden und ein selbstverständlich sozialdemokratischer Ministerpräsident von NRW führt Studiengebühren zur Haushaltsentlastung ein. Daran lässt sich vielleicht schon ein erster Rückschluss auf die PISA-Studie selbst ziehen - vielmehr aber zeigt dies auch nurmehr, auf welchen Boden die Frucht gefallen ist.

Eine Viertel Million Schüler aus 32 Ländern wurden bei dieser Erhebung befragt, und die wesentliche Messgröße ist dabei schon Ausweis eines neuen Zugangs zum Thema: Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung wurden anhand von Bildungskompetenzitems, Problemlösungsstrategien zu sozialem Hintergrund verschränkt. Dabei war die ursprüngliche Motivation sicherlich diejenige, Bildung mit der Standortlogik zu vermischen - nur geht hier kein zwielichtiges Münchner Wochenmagazin mit höchst fragwürdiger Methodik hin und überprüft, wo die meisten Topmanager zur Schule gingen. Das Konzept von Bildungskompetenz selbst kann auch in emanzipatorische Höhen weitergedacht werden und muss nicht in blanken Bruttosozialwertlisten verglichen werden. Es geht schließlich darum, so betonen die Verfasser im Vorwort, dass bildungstheoretische Optionen bewertet werden sollen, inwiefern also auf der Basis eines spezifischen Bildungssystems das soziale Milieu mit Bildungs- und gesellschaftlichem Erfolg zusammenhängen.

Ein legitimer Vorwurf ist dabei, dass trotz statistisch eindeutiger Aussagen, das Bildungssystem selbst - also in seinem systemischen Aufbau, seiner Qualität der Vermittlung etc. - nicht genauer bewertet wird. Hier müssen die Zahlen für sich sprechen, aber die scheinen eindeutig.

Diese Zahlen belegen: Die deutschen Schulleistungen liegen insgesamt sehr deutlich unterhalb des OECD-Mittels, gleichzeitig weist Deutschland den steilsten Quotienten bei der Verschränkung von sozialem Hintergrund und Bildungschancen auf. Das Entscheidende bei der zusammenfassenden Bewertung ist genau dies mit im Blick zu haben - ein Umstand, den sich ein Großteil der politischen DiskutantInnen zumeist ersparen. Gero Lenhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Max-Planck-Insitut für Bildungsforschung fasst die Ergebnisse der Studie weitgehend zusammen, wenn er formuliert: "Die leistungsstarken Schüler sind in der Bundesrepublik so tüchtig wie die leistungsstarken im Durchschnitt aller Länder, jedoch sind die schwachen besonders schwach und besonders zahlreich. [...] Dabei ergibt sich: Das schlechte Resultat geht auf vordemokratische Bildungsorientierungen zurück, die in der Bundesrepublik wirksamer geblieben sind als in den anderen westlichen Demokratien."

Nun kann mit Recht eingewendet werden, dass in Berlin ja auch ein Barockschloss auf öffentlichen Druck naturgetreu wieder aufgebaut werden soll, da macht sich ein barockes Bildungssystem recht gut - vor genau diesem Zynismus allerdings muss eine Betrachtung der Debatte verharren. Wenn Baden-Württembergs Kultusministern Anette Schavan als Ergebnis der Studie einen Ausbau der Hochbegabtenförderung, Guido Westerwelle eine Abschaffung der Kultusministerkonferenz und Gerhard Schröder den flächendeckenden Zentralismus einer ständigen Leistungsüberprüfung fordern darf, so kann heilen Verstandes nicht von einem gleichen und rationalen Zugang zur Debatte gesprochen werden. Die Szenerie erinnert tatsächlich an die Arglosigkeit einer selbstverordneten Beruhigung: im besten Wissen den Schlüssel im Park verloren zu haben, suchen trotzdem alle vor ihrer eigenen Laterne - dort ist es eben heller. Wäre das Thema nicht so ernst, ein Lachen im Publikum könnte entstehen.

Die zahlreichen Delegationen sind aus Finnland zurück und haben sich darüber gewundert, dass in den Gesamtschulen des Landes lustig zusammen gelernt wird, während in Deutschland der preußische Ernst permanenten Selektionsdrucks herrscht. Hier reden sich Lehrer und Schüler mit dem Vornamen an und ein Ziel ist, Sozialkompetenz zu lernen, in dem in einem Fach Schwächere von Stärkeren integriert werden. In Deutschland dominiert dagegen ein striktes gegeneinander, die Leistungsschwächsten sind ein beliebtes Opfer der Gewalt angeblich Besserer. Aus Selektivität wird Diskriminierung, wenn festgestellt werden kann, dass Kindern mit dem Sozialhintergrund der Migranten strukturell der Zugang zur Gesellschaft verhindert wird. Gleichzeitig haben zumeist sozialdemokratische Lokalpolitiker nichts Besseres vor, als Lehrerstellen mit Einstellungsstopps zu versehen, Sprachintegrationsprogramme im vorschulischen Bereichen wegzukürzen und den angeblichen "faulen Säcken" Extraaufgaben am Ende der Sommerferien aufzubürden.

Es scheint so, als besäßen die Deutschen ein heilsames Talent die Konsequenzen von Debatten recht schnell recht tief im Erdreich des Vergessens zu vergraben und konkrete Lösungsvorschläge möglichst zu zerreden. Die PISA-Studie ist nur eine dieser Analysen, die bereits zur blanken rhetorischen Figur, unter der alles Mögliche subsumiert wird, geronnen ist. Eine Wiederaufnahme der Debatte um das Verhältnis von Bildung und Gesellschaft etwa, wie es in den Gesamtschulen tagtäglich thematisiert werden könnte, bleibt konsensual tabu. Damit wird der Stagnation der Mantel der Sicherheit umgehängt und der moralische Zeigefinger kann ungestraft wieder auf den nächsten Gegner gerichtet werden. Es scheint ganz so, als sei dies im eigentlichen Sinne der angeblich ideologiebefreite Pragmatismus der Generation Schröder ff. Aber wenigstens sind "wir" Fußballvizeweltmeister.

Titelbild

Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2001.
548 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3810033448

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