Vom Glück des gleichzeitigen Schweigens

Matthias Polityckis Erzählband "Das Schweigen am anderen Ende des Rüssels"

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Reisende und der Erzähler sind verwandte Geister. Sie sind einsam, sie sind in Bewegung und beiden ist die Haltung des Beobachters auf neuem Terrain eigen. Es sind jene "Einsam-Stummen", von deren Einsamkeit Thomas Mann schrieb, sie evoziere "das gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht"; ihre "Bilder...vertiefen sich im Schweigen, werden bedeutsam, Erlebnis" und "Abenteuer".

Auch Matthias Polityckis erzählendes Ich ist ein Einsamer in Bewegung, auf Reisen, viel weiter reichen die Gemeinsamkeiten jedoch nicht: Es findet sich kein Tod in Venedig, dafür eine Trennung in Kopenhagen, der "Tod eines Thunfischs" im Taucherparadies Sharm el-Sheik oder ein "Gletscher in der Wüste Gobi". Insgesamt siebzehn Texte über das Reisen und die Fremde, verfasst 1985-2001, hat Matthias Politycki überarbeitet und in einem Buch zusammengestellt. Man merkt ihnen nun nicht an, dass sie über fünfzehn Jahre hinweg unabhängig voneinander entstanden sind; es ist eine Stimme die spricht, ein prägnanter Duktus, der sich von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht, und ebenso ähnelt sich, zumindest formal, auch der Verlauf der Geschichten.

Es ist ein äußerst eloquent plaudernder Erzähler, der gespannt, wenngleich distanziert, das fremde Noch-nicht-Gesehene sucht und das touristisch Banale findet, und umgekehrt in den menschlichen Banalitäten das Außergewöhnliche und erst Erzählenswerte entdeckt. Er umkreist mit langen, schnellen, rhythmischen Satzreihen seine Erfahrungen, widerruft, relativiert, deutet um ("oh nein", "oder vielleicht", "doch eigentlich"), bis er schließlich in jeder Geschichte - wie einem Gravitationsgesetz folgend - an den Punkt, an die Sekunde des Schweigens gelangt, wo alles stillsteht, "die Welt den Atem anhält" und für einen Augenblick ein zeitgleiches Geschehen von einem anderen Ort her durchschimmert. Mit einem Mal eröffnet sich hier die Gleichzeitigkeit aller Erlebnisse und die Sprachlosigkeit angesichts des sogenannten Wesentlichen.

Die Geschichten sind spiegelbildlich angeordnet. In ihrer Mitte, gleichsam als Achse und Mittelpunkt, steht "Tag eines Schriftstellers", die einzige Geschichte, die nicht vom Reisen handelt, sondern von der letzten Reise, vom Tod des Vaters. Zwei Gedichte bilden Anfang und Ende des Bandes, wobei beide auch zwei Strophen desselben Gedichts sein könnten. Sie geben das maßgebliche Motiv vor: Der Reisende muß sein Glück in der Fremde ("so schön, /daß ich fast lauthals losgeheult hätte") damit bezahlen, daß er "verdammt alleine" mit diesem Glück bleibt und es letztendlich nicht einmal mitteilbar ist (",Ah, interessant', wird man mir bestenfalls/ ein Nicken gönnen"). Ebenfalls als Klammer angelegt, stehen an dritter bzw. drittletzter Stelle die "Weltzeitgeschichten" I und II. In ihnen wird die Montage der simultanen Ereignisse etabliert ("während man in Luxor", "während im ostsibirischen Bratsk", "während das weiße Kamel von Kairouan") und mit dem Moment der Einsamkeit und der vergeblichen Erinnerung verknüpft.

Auf diesem Gerüst sind die vierzehn weiteren Geschichten angeordnet, die von den (ausgebliebenen) Abenteuern, den (un-)angenehmen Mitreisenden, den (Un-)Sitten der Einheimischen, von mißlungener Kommunikation mit Dolmetschern in gebrochenem Englisch und ähnlich Skurrilem berichten, ja sprudeln, bis sie eben alle in den Punkt der Stille fallen und schweigen. Die starke Betonung der formalen Struktur, das bewusste Sichtbarmachen der Konstruktion verleiht den Texten einen starken Zusammenhalt und dem Ganzen Einheit. Gleichzeitig wird aber auch - nicht ganz zu Unrecht - suggeriert, dass es sich letzten Endes um Variationen über ein Thema, um viel Lärm um nichts, um das Sprechen vom Schweigen handelt. So kann es sein, dass man trotz der wunderbaren Sprache Polityckis, trotz der Sogkraft, die die Erzählungen entfalten, nach einem Dutzend von ihnen die weiteren mit gemäßigter Spannung und Lust beginnt, obgleich sie den anderen in nichts nachstehen. Es bleibt ein außergewöhnlich gutes und empfehlenswertes Buch.

Titelbild

Matthias Politycki: Das Schweigen am andern Ende des Rüssels.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001.
224 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-10: 3455058906

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