Die Lügnerin als Architektin der Wahrheit

Theresia Walsers Theaterstück "Die Heldin von Potsdam"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1994 fällt Theresia Walser in die Hände: Eine Türkin wird von Skinheads in der S-Bahn bedroht. Eine junge Frau hilft der Türkin, wird von den Skinheads angegriffen, aus der Bahn geworfen und landet im Krankenhaus. Plötzlich ist sie zur Heldin geworden. Schließlich jedoch entpuppt sich die Heldin als gemeine Lügnerin. Sie hat die Geschichte frei erfunden. Nach dem Aufstieg kommt der Fall.

Es dauerte bis ins Jahr 2000. da machte der neue Intendant des Gorki-Theaters in Berlin der Dramatikerin, die bereits mit Stücken wie "King Kongs Töchter" oder "So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr" aufgefallen war, den Vorschlag, die neue Spielzeit mit einem Stück von ihr zu eröffnen. So entstand "Die Heldin von Potsdam". Paula Wündrich heißt sie bei Theresia Walser, und ist eine, bei der alles schief läuft. Zwar hat man sie längst entlassen aus dem Institut, in dem sie einen Zeitvertrag hatte, aber sie kommt immer wieder, hat die Schlüssel noch nicht abgegeben. Paula isst leidenschaftlich gerne, schlingt in sich hinein, was sie kriegt. Sie hat mehrere Liebhaber und zeitweise fühlt sie sich sogar als Nutte, bis ihr einer sagt, dass so wie sie keine Nutte sein könne, "eine Nutte hängt nachts nicht ihre Haare in den Teller, eine richtige Nutte liebt Tierfilme." Schulden hat Paula auch und Ordnung kann sie nicht halten.

So erfindet sie diese Geschichte mit der Türkin und dem Skinhead. Sie wird berühmt, bekommt Blumen in Vasen geschenkt, ihr Photo erscheint in allen Zeitungen. Selbst der Bundeskanzler besucht sie im Krankenhaus, und sie kommt ihm so nahe, dass sie ihn in sein Bundeskanzlerohrläppchen beißen könnte. Aber es ist nicht durchzuhalten, das Lügengespinst reißt, es kommt zu Paulas großem Lügenmonolog, den sie vor laufender Kamera hält: "es bleibt mir jetzt keine andere Rede mehr übrig als eine, die die erwartete verhindert." Und: "Ich hätte keine schlimmere Lüge wählen können / Ich habe die beste gewählt / der Rest ist Wirklichkeit."

Die Lügnerin hilft dabei, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Lüge baut mit am Wahrheitsturm.

In einem Interview hat Theresia Walser gesagt, sie habe den Eindruck, ihre Figuren kennten die Stücke besser als sie selbst. Das liegt daran, dass die Sprache so viel weiß. Die Sprache weiß vielleicht mehr als die Autorin, sie weiß aber auch mehr als die Figuren. Sie treibt auch dieses Stück an.

Titelbild

Theresia Walser: Die Heldin von Potsdam.
Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 2001.
120 Seiten,
ISBN-10: 3886612384

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