Als wir vorm Sterben flohen

Michael Kimballs Debütroman "Eine Familie verschwindet"

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie fasert sich doch unser Leben ins Windlose, Lautlose aus, müde Bewegungen müde zusammenfassend: Echo früherer Nötigungen von Handlosem auf Saitenlosem: bei Sonnenuntergang beginnen wir uns wild zu bewegen, tote Bewegungen von Puppen."

Diese Gedanken entstammen nicht Michael Kimballs Debüt "Eine Familie verschwindet", sondern der Feder William Faulkners. Dessen Roman "Als ich im Sterben lag", eine unübertroffene Reflexion über den Tod und seine Auswirkungen auf die Lebenden, hat Kimball als Vorbild gedient. Uns begegnen in beiden Büchern der grotesk-tragische Leichenzug einer verarmten amerikanischen Familie, eine nicht nur in den Köpfen der Handelnden herumspukende Leiche sowie Schrecken und Unglück biblischen Ausmaßes: Abtreibung, Vergewaltigung und Irrsinn bei Faulkner, Fehlgeburten, Kindsraub und Verwaisung bei Kimball.

Der 1967 in Michigan geborene Autor erzählt perspektivisch wie Faulkner: Der siebenjährige Sohn der Familie und seine jüngere Schwester wechseln sich als Ich-Erzähler mit naiv-poetischem Blick ab. Die Eltern, so folgern wir, sind sprachlos angesichts der Katastrophe. Nach dem Tod ihres Babys reist die namenlose Familie von Texas nach Michigan, um die beiden Kinder beim Großvater abzugeben. Ihr gesamter Besitz, der im Laufe der Reise für Benzin und Verpflegung entäußert wird, befindet sich im Wagen. Aufgebahrt in einer Spielzeugkiste im Kofferraum liegt das, was sie verloren haben. Der Leichnam ihres Kleinkindes wird das Einzige sein, was ihnen bleibt und ihnen zugleich die Verantwortung für die Lebenden raubt.

Ein Buch über den Umgang mit Verlust also. Während die Eltern mit ihrer Flucht infantile Hilflosigkeit offenbaren, beweisen die Kinder Kreativität, um im herrschenden Familienchaos Ordnung zu stiften. Der Junge berichtet über den Verkauf des Familienbesitzes vom Ehering der Mutter bis zur eigenen Baseballkappe, notiert gewissenhaft die Stationen ihrer topografischen Bewegung und bietet sogleich die ökonomische Interpretation des Ganzen: "Wir tauschten unsere Sachen gegen Meilen." Eine Reise nach innen lässt Kimball parallel das Mädchen vollziehen und, Faulkners Bild von den Puppen allzu wörtlich nehmend, eine ideale Nebenwelt phantasieren: "Meine Puppen-Familie spielt besser Familie als meine Menschen-Familie."

Bedauerlicherweise spürt man in jedem Satz, dass hier ein pädagogisierender Erwachsener in der Maske des Kindes spricht, und gerade nicht, wie die Erfahrung des Todes in einem kindlichen Bewusstsein Raum greift. Die strikte Trennung der Geschlechterrollen, Mädchen fühlen, Jungs registrieren, verstärkt nur das Unbehagen an diesem schmalen Roman, der meilenweit von der poetischen Wahrheit Faulkners entfernt ist.

"Und es war mir, als müsste ich im Weggehen nochmals alles verlieren, was ich schon verloren hatte, um es nicht zu vergessen". Auch dieser Satz stammt nicht von Michael Kimball, sondern von Arno Geiger, dessen "Schöne Freunde" eine der Überraschungen dieses Herbstes sind. Ein leises, aber geglücktes Buch über das Leben, Träumen und den Verlust aus der Perspektive eines Kindes. Nicht immer muss der Blick auf der Suche dem literarisch Besonderen über den Atlantik schweifen.

Titelbild

Michael Kimball: Eine Familie verschwindet. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Brigitte Heinrich.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
148 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413651

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