Worte wie Wunden

Die Briefe der Lilli Jahn und ihrer Kinder beleuchten die Abgründe einer deutsch-jüdischen Familie im Nationalsozialismus

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein israelischer Wissenschaftler fragte einmal, ob mit der Forderung nach einer universalistisch ausgerichteten Erinnerung an die Shoah dem jüdischen Volk nicht implizit die Funktion eines 'Agnus Dei' auferlegt werde. Spräche man statt dessen von einem 'Agnus historiae mundi', dann ließe sich in der Tat behaupten, dass man damit der vorwiegend jüdischen Opfer der Shoah im Stande ihres Opfer-Seins noch am adäquatesten gedenken könnte: als Paradigma der 'Trümmer auf Trümmer' häufenden Vergangenheit, die Walter Benjamins 'Engel der Geschichte' die Augen entsetzt aufreißen und den Mund so weit offen stehen ließen. Die oft proklamierte Un-Fassbarkeit, die Un-Darstellbarkeit der Shoah findet primär ihre Begründung in der Frage, wie sich der über sechsmillionenfache Mord an Menschen beschreiben ließe. Jedes Sprechen über die Shoah erneuert das grundlegende Dilemma: Einerseits fasst die Sprache das Geschehene nicht, andererseits soll gesprochen werden, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Dabei reichen die Darstellungen des Un-darstellbaren vom Abbildungsverbot bis zur politisch korrekten Gedenkroutine, die in dem Moment eintrat, in der das Zurückzucken, das mit der Tabuisierung verbunden war und in dem die Schuldfrage, die Scham und andere Potentiale sich abbildeten, die geeignet waren, die nach der Kapitulation wiederhergestellte psychische Sicherheit zu erschüttern, einer souveränen Rhetorik des Gedenkens wich, die seit den Amtszeiten Richard von Weizsäckers und Roman Herzogs auf der nationalen Bühne political correct ist. Nicht die Sprachlosigkeit kennzeichnet mehr die Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern die Diskurswucherung, durch die einzelnen Opfern ihr Mensch-Sein jenseits abstrakter Nummern ein zweites Mal streitig gemacht wird.

Dass dem nicht immer so sein muss, beweist ein ganz außergewöhnliches Buch, vielleicht eines der bewegendsten Zeugnisse der Shoah, das in den letzten Jahren publiziert wurde. Bei dem von Martin Doerry unter dem Titel "Mein verwundetes Herz" herausgegebenen "Leben der Lilli Jahn 1900-1944" handelt es sich nicht um eine historische Abhandlung, die Vollständigkeit und wissenschaftliche Objektivität für sich reklamiert. Was hier ansichtig wird, ist die brutale Fratze der Trümmer auf Trümmer häufenden Geschichte, die private und jene des nationalsozialistischen Massenmordes. Im Zentrum stehen die persönlichen Briefe der Lilli Jahn und ihrer Kinder. Sie sind ein großes, ergreifendes Dokument über die Unmenschlichkeit der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, aber auch für das Gesicht einer deutschen Gesellschaft, dessen Züge von Rassenwahn, Denunziation, Gleichgültigkeit und Gewalthedonismus bestimmt sind. Das Konvolut von 250 Briefen, die zwischen Mutter und Kindern seit dem September 1943 bis zur Deportation Lillis nach Auschwitz im Jahre 1944 gewechselt wurden, ging durch einen glücklichen Umstand nicht verloren. Der einzige Sohn, der spätere sozialdemokratische Politiker Gerhard Jahn, unter Willy Brandt Bundesjustizminister, sperrte sie weg und enthielt sie den Schwestern vor. Erst nach seinem Tod wurden sie wiederentdeckt. Klug und behutsam schreibt Doerry, ein Enkel Lilly Jahns, in seiner Einleitung davon, dass die meisten autobiographischen Zeugnisse über die Shoah naturgemäß von Überlebenden stammen. Wer "die dialektische Bedeutung solcher Berichte nicht begreifen kann oder will", für den ergäbe sich eine "merkwürdig verzerrte Bilanz: Es entsteht das Bild einer Schreckensherrschaft, der die meisten am Ende doch entronnen sind".

Eine große Ausnahme sind fraglos diese Briefe. Sie reden vom Warten und Hoffen, von der Angst und ihrer Alltäglichkeit, von dem Vertrauen in die Freunde, Familie und die Nachbarn, während die sich bereits abwenden, denunzieren und Lügen kolportieren. Und weil diese Zeugnisse so dezidiert privat sind, machen sie aus einem unbekannten Opfer einen Menschen, dem man sich nahe fühlt und dessen sinnloser Verlust einem schier unerträglich wird. Wer sich spätestens im Zusammenhang mit der (ersten) Goldhagen-Debatte den unbequemen Fragen nach dem Profil der Täter oder nach der Beschaffenheit einer Gesellschaft stellte, die diese Menschen hervorbrachte, findet in diesem Buch weitergehende Antworten. Die Briefe schildern, wie und mit welchen Gefühlen die Denunzianten an ihr Werk gingen, sie veranschaulichen die perfide Ausgrenzung aus dem familiären Leben und der Gesellschaft. Zudem bestätigen sie Goldhagens Ansicht von der 'Normalität' der Täter, die Juden willentlich und mit Eifer misshandelten und bereits psychisch zerstörten, bevor sie sich dann auch an deren physischer Vernichtung delektierten. Die Dokumente belegen eindrücklich, dass nicht nur der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt war, sondern auch, dass der Wunsch, die Juden als Fremde, Andere, Missliebige aus der deutschen Gesellschaft zu eliminieren, sehr viel weiter verbreitet war als bisher angenommen.

Martin Doerry vermeidet vorschnelle Verurteilungen und beflissene Rechtfertigungen. Die streng dokumentarische Art, mit der er Originalbriefe und erzählende Passagen verbindet, führt unvermeidlich zu einer eminent literarischen Wirkung: Solange es möglich ist, spricht Lilli Jahn durch ihre Briefe selbst. So ist der komplette erste Teil des Buches von den schwärmerischen, intellektuell anspruchsvollen Briefen ihrer Jugend und frühen Erwachsenenzeit dominiert. Man begegnet klugen und mitunter ironisch eingefärbten Berichten über Lektüre- und Theatererfahrungen, einem hochfliegenden geistigen Austausch mit dem innig geliebten Mann Ernst Jahn, ihrem "Amadé", und verschiedenen Freunden. Lilli Schlüchterer, die Tochter eines Kölner Fabrikanten, hatte den verarmten Ernst Jahn 1923 während ihres gemeinsamen Medizin-Studiums kennen gelernt. Die lebenslustige junge Frau traf auf einen früh verhärmten Melancholiker, der in seinem ersten Brief an ihre Eltern nicht auf den Hinweis verzichtete, dass Lilli ihn erst nach jahrelangem Kampf erobert hatte. Zunächst liebte er eine andere Frau, und erst nachdem diese ihn verlassen hatte, entschied er sich für Lilli. Bereits in diesen frühen Briefen beschleicht einen das unangenehme Gefühl, die leidenschaftliche Frau hätte ihre Liebe jemandem geschenkt, der ihr emotional nicht gewachsen war. Nach der Trauung zog das Paar in die nordhessische Kleinstadt Immenhausen, wo Ernst seine Praxis eröffnete. Seine Gattin, die im Unterschied zu ihm promovierte Medizinerin war, zwang er, den Beruf aufzugeben, um "ganz Frau und Mutter" zu sein. Sie gebar ihm schließlich fünf Kinder, neben dem schon erwähnten Gerhard noch vier Töchter.

Mit Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft begann 1933 auch das Kesseltreiben der Immenhausener Bürger. Lilli "ging fast überhaupt nicht mehr vor die Tür". Die Arztfamilie, einst geachtet, war nun geächtet und vogelfrei. Die Kinder wurden zu "Halbjuden" gestempelt. Nach dem Pogrom 1938 flohen Lillis Schwester und ihre Mutter nach England, der arbeitsame und reputationssüchtige Ernst hingegen konnte sich nicht entschließen, seine Praxis aufzugeben. Stattdessen ließ er sich im Oktober 1942 trotz der eindringlichen Warnung von Freunden und ungeachtet der ersten durch Europa rollenden Deportationen von seiner Frau nach sechzehn Ehejahren scheiden. Schließlich gab es auch dafür einen Grund: Er hatte sich in eine junge, arischen Kriterien auf hervorragende Weise entsprechende Aushilfsärztin verliebt, sie geschwängert, schließlich geheiratet und wurde von den Dorfhonoratioren nun besser goutiert. Als das gemeinsame Kind im Familienhaus der Jahns zur Welt kam, leistete Lilli unglaublicherweise sogar noch Geburtshilfe - ein Lehrstück über moralische Dekadenz und menschliche Erniedrigung. Vor Freunden hielt sie ihr Unglück lange Zeit geheim, klagte erst in einem Brief vom März 1943 ihr Leid, bat jedoch gleichzeitig, ihren "Amadé" nicht zu verurteilen. Ihm könne "weder Leichtsinn noch Herzlosigkeit noch Schlechtigkeit" unterstellt werden. Als der nationalsozialistische Immenhausener Bürgermeister schließlich auch die Wohnsituation als "unzumutbar" für einen deutschen Arzt empfand, jagte er die Jüdin mitsamt ihrer Kinder aus der Stadt in das benachbarte Kassel. Dort trieb die schreckliche Farce ihrem Höhepunkt entgegen. Obwohl geschiedene Partner aus einer "Mischehe" vor Deportation geschützt waren, solange die Kinder das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, wurde Lilli ins Lager Breitenau verfrachtet, weil sie durch das Anbringen ihrer Visitenkarte "Dr. med. Lilli Jahn" als provisorisches Namensschild gegen zwei eherne antijüdische Nazi-Vorschriften verstieß: gegen das Verbot, den Doktortitel zu führen, und gegen die Verordnung, den Namen Sara ihrem Vornamen hinzuzufügen. Auch hier griff wieder die erste deutsche Bürgerpflicht: Jemand denunzierte sie, was zu ihrer Verhaftung und anschließenden Deportation nach Breitenau führte, wo sie zwölf Stunden am Tag bei unzureichender Ernährung Zwangsarbeit leisten musste. Die Kinder waren mit einem Mal sich selbst überlassen. Bemüht um Normalität und Aufmunterung, konnten die Probleme und Sorgen nur noch den Briefen anvertraut werden, die der Mutter oft zweimal täglich nachgeschickt wurden. Lillis Briefe werden unter dem Druck der Repressionen und weil bald die meisten Freunde und Familienmitglieder geflüchtet oder deportiert sind, seltener und bedrückender.

Der zweite Teil der Briefsammlung trägt daher eindeutig den Stempel der Kinderbriefe, bei denen es sich um Berichte vom Strümpfe-Stopfen, Schularbeiten-Machen, vom Organisieren der Lebensmittel oder vom Tod eines geliebten Wellensittichs im Bombenhagel handelt. Diese mitunter nur unter größter Qual zu lesenden Briefe lassen nachempfinden, wie schlimm die sieben Monate ohne die Mutter waren, in denen die Kinder zumindest aber noch die Hoffnung hatten, Lilli werde baldmöglichst zu ihnen zurückkehren. Selbst kurz vor ihrer Ermordung in Auschwitz sandte diese eine letzte Nachricht an ihre Kinder. Sie ist, horribile dictu, gleichsam ein Symbol des Niedergangs: Die hoch gebildete Ärztin hat diesen Kassiber, weil sie vermutlich schon zu schwach war, nicht mehr selbst geschrieben, sondern jemandem diktiert, der kaum richtig Deutsch konnte.

Was die Lektüre jedoch fast unerträglich bitter macht, ist der Umstand, dass das Schicksal der Lilli Jahn auch ein Lehrstück über die aktive und bereitwillige Mitarbeit der so genannten Nächsten an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ist. In ihrer Studie "Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945" weist Beate Meyer zu Recht darauf hin, dass die Familie kein Bollwerk gegen die Vernichtung war. Die Liebesbeziehung blieb von den Repressalien und von den Machtverhältnissen nicht unbeeinflusst. Weiter geht sie davon aus, dass sich viel mehr "arische" Männer von ihren jüdischen Frauen scheiden ließen als umgekehrt. Andererseits hat erst jüngst Nathan Stoltzfus' Buch über die Frauen der Rosenstraße verdeutlicht, wie viel die Courage und der offene Protest von in "Mischehen" lebenden Deutschen bewirken konnten, hatten doch die anhaltenden Demonstrationen der "arischen" Frauen im Frühjahr 1943 das NS-Regime veranlasst, Hunderte jüdische Ehemänner aus den Konzentrationslagern wieder freizulassen, fünfundzwanzig davon wurden gar aus Auschwitz zurückgeholt. Wie Stoltzfus weiter ausführt, machten, als der Krieg zu Ende war, "mit Deutschen verheirateten Juden 98 Prozent der überlebenden jüdischen Bevölkerung aus." Auch und vor allem vor diesem Hintergrund muss man die Tragödie der Lilli Jahn lesen: Immer wieder flehte Lilli um Hilfe. Ernst Jahn wagte jedoch nicht, sich bei den Behörden mit Nachdruck für die Mutter seiner Kinder einzusetzen. Stattdessen überließ er sie dem nationalsozialistischen Pöbel. Wie die Kinder nach dem Krieg zu ihrem Vater standen, darüber geht Doerry mit diskretem Schweigen hinweg, so wie er überhaupt jedwede Dramatisierung klug vermeidet und damit höchste Wirkung erzielt.

Die von Martin Doerry aufgezeichnete Geschichte der Lilli Jahn kündet, indem sie sich auf die Darstellung eines Opfers im Stande seines Opfer-Seins, auf die Hoffnungen und die Enttäuschungen einer Frau beschränkt, die ermordet wurde, auch von den Millionen, denen kein Ausweg blieb. Und weil von einer privaten, aber dennoch keineswegs ausschließlich privaten Katastrophe die Rede ist, wird aus dem Leid der Zahllosen, das nicht begriffen und dargestellt werden kann, das Schicksal eines Menschen, das einen unendlich berührt. Umso ungeheuerlicher erscheinen die Vernichtung und ihre Vorgeschichte aus Denunziationen, Ausgrenzungen, psychischen und körperlichen Gewalttaten. Dieses einzigartige und bewegende Buch ist eine der wichtigsten Publikation der letzten Jahre. Es ist zu hoffen, dass die Biographie dieser klugen Frau und liebevollen Mutter, einer deutschen Jüdin, die erst der Antisemitismus stigmatisierte, nicht in der kalten und souveränen Rhetorik des Gedenkens erstarrt, sondern dass die Worte und Wunden dieses Textes in ihrer Unbequemlichkeit und Sperrigkeit in einer Gesellschaft weiterhin eitern, die auf dem besten Weg ist, einen Schlussstrich unter die eigene Vergangenheit zu ziehen und zu den ersten deutschen Bürgerpflichten zurückzufinden.

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Beate Meyer: Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungswahn 1933-1945.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2002.
494 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3933374227

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Titelbild

Martin Doerry: Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
384 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 342105634X

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Titelbild

Nathan Stoltzfus: Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße - 1943. Mit einem Vorwort von Joschka Fischer.
dtv Verlag, München 2002.
476 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3423308451

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