Der Duft vergärender Zwetschgen

Mit "Ein perfekter Freund" legt Martin Suter einen exzellenten Psychothriller vor

Von Benjamin EwertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Ewert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den letzten 50 Tagen seines Lebens geht es Fabio Rossi genauso wie mit den ersten vier Jahren seines Daseins: Er kann sich nicht mehr an sie erinnern. Welcher Zeitabschnitt für den jungen Journalisten schicksalhafter war, darüber lässt sich trefflich streiten. Rossis akribische Recherche nach Spuren seines verlorenen Lebens ist aber nur die eine Seite des neuen Romans von Martin Suter. Brisanz gewinnt die Handlung des Psychothrillers "Ein perfekter Freund" durch die Beigabe zweier weiterer Zutaten: Einem folgenreichen Lebensmittelskandals und einer in die Krise geratenen Männerfreundschaft.

Suters Protagonist Fabio Rossi vereinigt in sich normalerweise alle Eigenschaften, die sein feurig klingender Name verspricht. Der in Zürich lebende Italiener sieht gut aus, ist temperamentvoll und lebt am Puls der Zeit. Als selbstbewusstes Schreibtalent einer Sonntagszeitung geht er ein und aus in den angesagten Restaurants, Kneipen und Cafés der Stadt. Er ist der Liebling der Frauen und ein fanatischer Fußballfan. Normalerweise. Nun nach dem Erwachen aus dem Koma sieht Rossis Welt anders aus. Er ist plötzlich fremd im Hier und Jetzt, fühlt sich "sinnlos und taub". Zudem stellt ihn das schmähliche Wissen über seinen Zustand nur vor weitere Fragen. Weshalb erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma? Warum trennte er sich von seiner Lebensgefährtin? Wieso kündigte er seinen Job bei der Zeitung? Die Antworten liegen in den zurückliegenden 50 Tagen verborgen. Doch so sehr sich Rossi auch anstrengt, das einzige was ihm zu dieser Zeit einfällt, ist eine Assoziation, die sich auf die Gemeinsamkeit zwischen seinem Gehirn und seinem Laptop bezieht. Beide verzeichnen einen kompletten Datenverlust über die Geschehnisse der letzten 50 Tage.

Rossi beginnt damit "die Kluft von fünfzig Tagen und Nächten Nichts" allmählich anhand unterschiedlichster Erinnerungsfetzen zu schließen. Ein Puzzlespiel. Während der Leser den sympathischen Protagonisten bei der Rekonstruktion seiner Vergangenheit begleitet, kristallisiert sich Stück für Stück der Kern der Story heraus. Suter greift hier ein brandaktuelles Thema auf - ohne es plakativ oder gar reißerisch für den Effekt seines Romans auszuschlachten: Es geht um den BSE- Erreger und dessen menschliche Form, um die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und um verseuchte Lebensmittel. Journalist Rossi wird abermals in die Geschichte hineingezogen, die im engen Zusammenhang zu seinen Kopfverletzungen und dem daraus resultierenden Gedächtnisschwund steht. Er recherchiert erdrückende Beweise gegen eine große Schweizer Schokoladenfirma, deren Produkte mit Eiweißmolekülen behandelt wurden. Kenntnisreich, jedoch keineswegs pseudowissenschaftlich belehrend, klärt Suter seine Leser über den springenden Punkt des Plots auf: Den Nachweis von Prionen - strukturell veränderten Eiweißen - in Schokoriegeln. Der Hersteller erhöhte den Fettgehalt des verwendeten Milchpulvers durch Talg von BSE-kranken Rindern. Der Schokoladengenuss wird somit zu einem erheblichen Gesundheitsrisiko.

Verfeinert wird die Geschichte durch eine dritte Ingredienz: Die Männerfreundschaft zwischen Fabio Rossi und seinem Arbeitskollegen Lucas Jäger. Lucas ist in seinem Wesen sehr verschieden zu Fabio, den er gleichzeitig bewundert. Er wird als "journalistisches Urvieh" beschrieben, zuverlässig, bodenständig und zäh. Bereits auf den ersten Seiten des Romans kommentiert Lucas Fabios Bemühungen die Agenda der für ihn verlorenen Zeit zusammenzusetzen mit den Worten: "Du hast in anderen Kreisen verkehrt". Eine simple Botschaft, deren Gehalt Fabio erst spät versteht. Die Männerfreundschaft gibt Suters Roman den Titel "Ein perfekter Freund". Trotz zahlreicher Irrungen und Wirrungen ist er durchaus wörtlich gemeint. Der Weg zu dieser Erkenntnis führt über fein nuancierte Erleuchtungsstufen. Suter beeindruckt mit der Erschaffung komplexer Charaktere sowie einer enorm dichten und plastischen Erzählweise. Regelrecht sinnlich ist das Ende der kontinuierlich nach oben geführten Spannungskurve, das die Lösung aller Rätsel mit sich bringt: Der Duft vergärender Zwetschgen.

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Martin Suter: Ein perfekter Freund. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
338 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3257860838

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