In die Fremde heimkehren

Denis Mikan beschreibt in seiner Novelle "Emil" das Leiden eines Heimatsuchenden

Von Veronika SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emil ist über Nacht vor dem Krieg nach Wien geflüchtet, wo er nun nach einer besseren Arbeit sucht. Seine Freunde verkehren gerne in studentischen Kreisen und besuchen Lesungen oder Parties. Selbst dort unterhalten sie sich in ihrer Muttersprache, gegen die Emil allmählich genauso eine Aversion entwickelt wie gegen die serbische "Mentalität". Er beobachtet seine Landsleute und vergleicht sie mit den Wienern; er möchte einfach nicht mehr so wie seine serbischen Bekannten sein. Emil beginnt seine Gedanken in deutschen Worten zu formulieren, seine Muttersprache geht dabei langsam verloren, bis er sie letztlich nicht mehr versteht. Dies verstärkt seinen inneren Zwiespalt und seine Verlorenheit, da er nicht weiß, wo er zu Hause ist.

Der serbische Literaturpreisträger Denis Mikan beschreibt in einundzwanzig Kapiteln, die eher kurzen Episoden gleichen, als dass sie eine fortlaufende Geschichte bilden, den Heimat- und Selbstfindungsprozess des ebenfalls serbischen Emigranten Emil, der zugleich ein Entfremdungsprozess ist.

Der Autor stellt seinen Protagonisten als einen erschreckbar-ängstlichen Menschen dar. Emil bewegt sich in seiner Umwelt wie ein ständig Flüchtender, immer in der Angst vor der großen Enttarnung als "Kollektivmensch" in einer ihm ungeliebten und fremden Stadt. Hinter jedem Schaufenster oder Spiegel glaubt er beobachtet zu werden, sogar im Kino und in seiner eigenen Wohnung fühlt sich Emil verfolgt.

Der Protagonist versucht sich seiner Umwelt anzupassen, er versteckt und verstellt sich. Bei einer Begegnung mit Greenpeace-Aktivisten beginnt Emil, sich zu fürchten, er hat Angst, verletzt zu werden, falls sie doch die Geduld verlieren sollten. "Deshalb versucht er, als er an ihnen vorbeigeht, sich wie alle anderen zu benehmen: [...] er lächelt dämlich, er schaut in die andere Richtung und ignoriert sie,[...] er zeigt sich am Thema interessiert". Emil versucht auf jede erdenkliche Weise, aus dieser Situation heil herauszukommen, doch auch wir verhielten uns ähnlich gegenüber aufgebrachten Demonstranten, unsere Angst wäre allerdings nicht so groß wie die des Protagonisten. Genau dies ist der schmale Grat, auf dem Emils Bewusstsein balanciert, zwischen Normalität und - ein wenig mehr. Auffallend oft tauchen die Wörter "Angst", "peinlich", "sich beobachtet fühlen", "unauffällig sein", "erschrecken", "unsicher", "erkannt" und "entblößt" auf. Dauernd macht sich Emil Gedanken, was andere über ihn denken könnten, Unsicherheiten quälen und veranlassen ihn, sich anzupassen.

Einerseits also nehmen Emils Züge paranoide Formen an, andererseits benimmt er sich wie jeder normale Mensch heutzutage auch. Seine Gedankengänge sind nicht immer die eines unter Wahnvorstellungen Leidenden, sondern die eines in unserer heutigen Welt lebenden und denkenden Menschen. Er setzt sich lieber in das überfüllte vordere Abteil der Straßenbahn als in das hintere; er macht einer älteren Frau nicht gleich Platz, da er Angst hat, sich beim Aufstehen zu blamieren.

Das einzig Besondere in Emils Leben ist der Wunsch, Schriftsteller zu werden. In der von ihm verfassten Binnengeschichte beschreibt er eine signifikante Erfahrung. Bei einem Fußballspiel, das er mit Freunden besuchte, verstärkt sich seine ausgeprägte Antipathie gegen seine Landsleute. War er zu Beginn des Spiels noch auf der Seite Partizan Belgrads, ändert sich während des Spielverlaufs seine Haltung. Angeekelt vom Verhalten der serbischen Fans, bestätigte sich in diesem Moment das Klischee des primitiven Serben, der stolz darauf ist, "primitiv zu sein". Deshalb wechselt Emil die Seite: "Ich freute mich heimlich, über jedes Tor, das Rapid schoss. [...] So muss sich Prinz Eugen gefühlt haben, nachdem er Sarajewo niedergebrannt hatte."

Aufhorchen lassen den Leser Emils Entgleisungen, die aber banal wirken. An einer Stelle etwa klaut er spontan ein Auto, doch was dann geschieht, bleibt unerzählt. An einer anderen Stelle denkt er das klassisch patriarchalische Familienmodell bis in die letzte Konsequenz weiter und bezeichnet Frauen als "Empfängnismöglichkeiten". Auffallend ist auch die Namensgebung der anderen Charaktere: Emils bester Freund trägt den Namen Denis und sein Vater heißt mit Vornamen Mikan. Dies sind nur einige Punkte, die auf die autobiographische Färbung der Novelle hinweisen.

Mein Lieblingssatz ist jedoch folgender: "Aber ihre George-Clooney-Bildschirmschoner, flüstert er, werden es wohl kaum schaffen, das einzig Richtige zu tun, um sie vor völliger Nutzlosigkeit zu bewahren, nämlich - sie zu befruchten." Diese herrliche Aussage kann selbst der kurze Exkurs in die tiefen Abgründe der 'perversen' Schwulen nicht toppen. Mikan beschäftigt sich auffällig ausführlich mit dem Thema Schwulenhass, vielleicht ein Hinweis auf ein Klischee, demzufolge Schwulenhass nichts anderes ist als die eigene verdrängte Homosexualität.

Die recht eigenständigen Kapitel erhellen gleich unkontrollierten Scheinwerfern mal diesen und mal jenen Abschnitt in Emils Leben. Oft angeregt und neugierig auf Fortführendes, wird der Rezipient im Ungewissen über die weitere Entwicklung gelassen, was nicht immer dem Lesegenuss zugute kommt.

Auf der anderen Seite schafft es Mikan mit seinem Stil, den Leser zu fangen und zu faszinieren, da diese Konzeption etwas Neues in sich birgt und im Endeffekt als Geschlossenes aus sich hervorgeht. Zwar haben wir keinen fortlaufenden, alles ausleuchtende Geschichte vor uns, doch der rote Faden bleibt ständig präsent.

Am Ende entschließt sich Emil, seine alte Heimat zu besuchen. Voller Hoffnung bricht er nach Sarajevo auf, doch auch dort ist er ein Fremder, fühlt sich nicht Zuhause. Plötzlich sehnt er sich wieder nach Wien und beschließt, "in die Fremde heimzukehren".

Titelbild

Denis Mikan: Emil. Roman.
edition exil, Wien 2002.
100 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3901899103

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