Stilblüten des Bösen

Nicolas Breháls Roman wurde ohne "Gespür für die Nacht" übersetzt

Von Kolja MensingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kolja Mensing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Achille ist Inspektor bei der Pariser Kriminalpolizei und ein sehr unglücklicher Mensch. Er träumt von der Liebe und von richtigen Verbrechern, und weil es beides in seinem Leben nicht gibt, liest er düstere Gedichte. An diesem Abend ist es Baudelaire: Achille hat auf dem Weg zum Nachtdienst eine alte Ausgabe der "Blumen des Bösen" erstanden. Sie scheint ihm Glück zu bringen: Als der Inspektor sich in seinem Büro gerade in "Les Epaves" versenkt hat, wird ihm gemeldet, dass man einer Mülltonne Teile einer weiblichen Leiche gefunden habe. Ein richtiges Verbrechen, ein grausames Verbrechen. Wie schön. Achille fühlt sich zuletzt doch noch in der "Folgerichtigkeit zwischen der Literatur und dem Leben, den Wörtern und dem Tod" bestätigt.

Diese zutiefst romantische Weltsicht können sich heutzutage nur noch Romanfiguren leisten: Achille, der traurige Polizist, der allein mit seiner Katze in einer kleinen Wohnung an der Seine lebt, ist eines der Kunstgeschöpfe des französischen Schriftstellers Nicolas Brehál. Sein Roman "Ein Gespür für die Nacht" erzählt von lauter Menschen wie Achille: Menschen, die es nicht wirklich gibt, aber an die man als Leser unbedingt glauben möchte. Wie die schöne Marge zum Beispiel, die mit ihren eisigen blauen Augen und ihrem anmutigen Gang an Baudelaires unbekannte Passantin aus den "Blumen des Bösen" erinnert. Wie Sabine, die Striptease-Tänzerin, die sich hinter einer Glasscheibe in die Träume ihrer Zuschauer verwandelt. Wie Marius, der Taxifahrer, der mit seiner Kamera kleine Nachtromane fotografiert, um sie zu Hause in Pappkartons einzulagern. Oder wie Gaspard, der Mörder, der willenlos inmitten dieser Figuren tötet und dessen Blutspur den Gang der Handlung vorzeichnet: "Gaspard gab mir nicht die geringste Freiheit", läßt Bréhal seinen Erzähler erklären: "Ich mußte nur noch, wie man die Fäden eines Knotens entwirrt, das Schicksal aller Personen aufrollen."

Das ist ein schöner und ebenfalls zutiefst romantischer Kunstgriff: Nicolas Brehal tut so, als gebe es da im Innern seines Romans ein verborgenes Ordnungsprinzip, das Autor, Erzähler und Figuren zu abhängig Beschäftigten macht. Gleichzeitig nimmt er sich jede nur mögliche stilistische Freiheit, und "Ein Gespür für die Nacht" ist so zu einem Roman geworden, der vom Klang seiner Sprache lebt und in dem man liest, wie man das Konzert eines sommerlichen Großstadtregens belauscht: Ein Plätschern erst, dann Tropfen, die immer schwerer auf die Dächer fallen, zuletzt die tosenden Sturzbäche, die sich über die Straßen und Hinterhöfe ergießen bis der Regen sich dann wieder zu einem leisen Flüstern abschwächt, wie der melancholische Achille es manchmal als innere Stimme hört: "nicht wirklich eine Stimme, eher wohl das sanfte Geräusch einer Brise in den Blättern eines Baumes, die aber verständliche Worte flüsterte." Vielleicht hat Nicolas Brehál ein wenig hoch gegriffen, als er die vier großen Nachtkapitel, in die sich sein Roman unterteilt, "Nocturnes" genannt hat, doch ein wenig ähneln die perlenden Wörter und die verspielten Melodieliniensätze seiner Sprache schon dem Klang der "Nachtstücke", mit denen Chopin damals (in der Zeit Baudelaires!) berühmt wurde.

Nun kann man nicht stundenlang Chopin hören, und auch ein Sommerregen wird einem irgendwann zuviel. Darum würde einem wohl "Ein Gespür für die Nacht" zuletzt ein wenig langweilig werden. Doch vielleicht wäre das gar nicht so schlimm - aufregende Bücher gibt es ja genug - wenn da nicht noch im ganz wörtlichen Sinne das Problem der Interpretation wäre. Die deutsche Fassung von "Ein Gespür für die Nacht" ist nämlich eine dieser Übersetzungen, die einem schon auf den ersten Blick ganz krumm und schief vorkommen. Verena Nolte, so heißt die Übersetzerin, baut zum Beispiel endlos verschachtelte Sätze und bereichert die deutsche Sprache durch erstaunliche Partizipialkonstruktionen - da gibt es unter anderem die grammatikalisch sehr mutig in Szene gesetzte "Ermordete, die wahrscheinlich, sich zur Wehr setzend, Zeit gehabt hatte, Gaspard ein paar Barthaare auszureißen". Und dann hat der deutsche Verlag obendrein vorgezogen, Baudelaire aus den expressionistisch verdüsterten und orthographisch verschatteten Nachdichtungen Stefan Georges zu zitieren. Da kann man sich dann nur noch wundern, und das möglicherweise ganz schöne Buch schnell wieder zuklappen. Das einzig Lustige ist, dass ein einsames "Je t'aime" auf Seite 264 einfach gar nicht übersetzt ist. Vermutlich ist das als kleines folkloristisches Dankeschön an das Französische Kultusministerium gedacht: Das hat diese Übersetzung nämlich auch noch mitfinanziert.

Titelbild

Nicolas Brehál: Ein Gespür für die Nacht. Aus dem Französischen von Verena Nolte.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
382 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3608934936

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