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Jörg Lau porträtiert ein veröffentlichtes Leben

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vermutlich ist er überhaupt kein Festkörper, sondern ein Luftwesen, das Prinzip Hoffnung auf Rädern, der Weltgeist auf Achse, sich den Zeitströmungen auf eine seglerhafte Art akkomodierend.“ Nach Peter Rühmkorfs Mutmaßung ist Hans Magnus Enzensberger – wie Ariel – ein Luftikus, der es nirgendwo und mit niemandem lange aushält. Und folgt man, wie nun Jörg Lau, seinen Lebensstationen, so scheint sich diese These wie von selbst zu bestätigen.

Hans Magnus Enzensberger wird 1929 in behüteten bürgerlichen Verhältnissen geboren und wächst in der „Reichspropagandastadt“ Nürnberg auf. Gleichwohl verfängt das nationalsozialistische Pathos in diesem Milieu nicht. Als der Krieg aus ist, lernt der Sechzehnjährige für die Amerikaner dolmetschen. Bereits 1949 kann er ins Ausland reisen, nach England und Schweden. Ein Stipendium führt ihn für ein Jahr an die Sorbonne. Der Plan zu einer Dissertation – Hitlers Rhetorik – scheitert am Widerstand der Professoren. Enzensberger arbeitet stattdessen über Clemens Brentanos Poetik. Er beschreibt Brentanos Werk als Rätsel, das durch die Biographie des Autors nicht gelöst werden könne.

So müßte man es mit seiner eigenen Biographie auch halten. Generell fragwürdig ist, daß Jörg Lau umstandslos so tut, als sei Enzensbergers Œuvre ein „veröffentlichtes Leben“ – er liest es autobiographisch und zitiert es als Beleg. Dies ist insofern inkonsequent, als er auf der anderen Hand dieses Œuvre als „Erkundung neuer Haltungen“ überzeugend darstellt, also gerade nicht als Erinnerungsliteratur, sondern als „Probebühne“ und Experimentierfeld. Enzensbergers Lyrik etwa ist politisch, aber nicht ‚engagiert‘, es fehlt ihr jeglicher Bekenntnischarakter, auch wenn sie oft auf dieselben ‚Stoffe‘ referiert wie die Prosa und Essayistik. 1955 werden in Walter Höllerer ‚Akzenten‘ die ersten Gedichte gedruckt, 1957 erscheint der Debutband „Verteidigung der Wölfe“, 1960 der zweite Gedichtband „landessprache“.

Laus Biographismus führt dazu, daß sein Buch für die Interpretation des literarischen Schaffens keine weiteren Impulse liefert – das ist aber auch nicht sein Ziel. Gleichwohl wurmt es den Rezensenten, diese Chance vertan zu sehen. So wäre es eminent fruchtbar, anhand der exzessiv dargestellten sogenannten ‚Lyrik‘ („Mausoleum“) oder ‚Komödie‘ („Der Untergang der Titanic“), auch einmal die Gattungsfrage zu stellen; nur aus Anlaß des ‚Romans‘ „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972) wird sie explizit aufgeworfen, jedoch nicht beantwortet.

1955 ist Enzensberger Assistent von Alfred Andersch in der Redaktion ‚Radio-Essay‘ und lernt den Kulturbetrieb von innen kennen und kritisieren. Der junge Lyriker und Essayist nimmt an den Treffen der ‚Gruppe 47′ teil. 1960 wird er Lektor im Suhrkamp Verlag – ein Gastspiel von kurzer Dauer. Im Herbst 1961 lebt er bereits mit Ehefrau Dagrun und Tochter Tanaquil auf der norwegischen Insel Tjøme im Oslo-Sund. Doch bleibt er dem Suhrkamp Verlag verbunden: als Übersetzer und Berater, als Herausgeber und Scout. Natürlich bleibt er Autor des Verlages – und einer seiner erfolgreichsten dazu. Die eigenen Lyrikbände liegen weit über der ‚Enzensbergerschen Konstante‘, verkaufen sich also überproportional gut.

Für die politische Bildung im Nachkriegsdeutschland ist Enzensbergers frühe Kultur- und Medienkritik zweifellos modellbildend gewesen. Die gesammelten Essays, die 1962 unter dem Titel „Einzelheiten“ erscheinen, schlagen hohe Wellen. Sie werden selbst noch durch jene Medien verbreitet, die er zuvor attackiert hat. 1962 beginnt Enzensberger regelmäßig für den ‚Spiegel‘ zu schreiben, dessen Sprache er 1957 als Form der „Diffamierung“ bewertet hatte. ‚Der Spiegel‘ druckte Auszüge dieser Medienschelte gleich nach.

Hans Magnus Enzensberger fehlt alles Geschick für eine tragische Dichterexistenz. Aber wie kein zweiter weiß er sich auf nationalem und internationalem Parkett zu bewegen. Der bis dahin jüngste Preisträger nimmt im Oktober 1963 den Darmstädter Büchnerpreis entgegen. Seine Preisrede ist für viele eine Provokation, weil sie die deutsche Frage einmal anders und die Leerformelhaftigkeit der „politischen Sprache“ in den beiden Deutschlands an den Pranger stellt. Er nutzt die Chance zur öffentlichen Rede, um weit über den Raum der Literatur hinauszugehen. Und dennoch bleibt er auf seinem ureigensten Terrain, der Sprache und Sprachkritik.

1965/66 erscheinen die ersten Hefte des ‚Kursbuchs‘ und erzielen eine Auflage von 10.000 bis 15.000 Exemplaren, in den Hochphasen der Studentenrevolte oft mehr als 50.000. Traumhafte Ergebnisse für eine Zeitschrift. Mit Literatur allerdings hat sie nicht mehr viel zu tun. Das vierte Heft des ‚Kursbuchs‘ fordert die Lösung der ‚deutschen Frage‘ im Rahmen einer „Konföderation“, was die Anerkennung der DDR impliziert. Das Umfeld der Zeitschrift, man mag heute darüber lächeln, wird von interessierten Kreisen als „geistiger Nährboden des Terrorismus“ bezeichnet. Ausgelöst durch das mißverständliche und mißverstandene ‚Kursbuch 15′ wird 1968 der Tod der Literatur diskutiert. Aber heimlich und wider den Zeitgeist schreibt Enzensberger weiterhin Gedichte.

Um die Ausgewogenheit und Zuverlässigkeit dieser Studie ist es nicht überall gleich gut bestellt. Einer von Laus Hauptzeugen für die Jahre des ‚Kursbuchs‘ ist Karl Markus Michel, Redakteur der ersten Stunde und bis heute Herausgeber. Michels Darstellung zufolge hat Siegfried Unseld den Vertrag mit dem Herausgeber Enzensberger gebrochen, indem er kategorisch erklärt habe, das ‚Kursbuch 21′ zum Thema „Der Kapitalismus der BRD“ werde nicht erscheinen. Unseld habe sich des ‚Kursbuchs‘ entledigt und danach erst seine Mitgesellschafter in der Schweiz von seinem Schritt informiert. Es wäre gut gewesen, hier auch Unseld oder Enzensberger zu konsultieren, denn diese Darstellung ist böswillig und falsch. Bereits Anfang 1970 haben sich Unseld und Enzensberger auf eine Neugründung der Zeitschrift geeinigt. Zuvor, im Januar 1970, hat Unseld seine Schweizer Mitgesellschafter konsultiert und deren Einverständnis eingeholt. Grund und Auslöser der Trennung war auch nicht Heft 21, sondern waren tiefergehende Meinungsverschiedenheiten, die die Themenplanung allgemein und die Einrichtung des ‚Kursbogens‘ insbesondere betrafen. An eine abrupte Trennung war nie gedacht, vielmehr betrieben Unseld und Enzensberger die Gründung einer gemeinsamen ‚Kursbuch G.m.b.H.‘, in der Enzensberger, als Hauptverantwortlicher für den Inhalt, nun auch die gesellschaftsrechtliche Verantwortung übernehmen würde. Der Suhrkamp Verlag sollte weiterhin alles Administrative betreuen. Ein Vertrag darüber lag schon ausgearbeitet vor, als Enzensberger umdisponierte und mit der Zeitschrift zu Wagenbach ging. Die Trennung von Suhrkamp erfolgte einvernehmlich, ja partnerschaftlich.

Jörg Laus Buch ist also journalistisch unsauber gearbeitet, zumindest partiell; aus philologischer Sicht geht es mit dem literarischen Werk zu sorglos-selbstverständlich um; ferner ist seine Biographie auffällig thesenschwach. Zu welchem Zweck, so fragt man sich schließlich, hat Lau all sein detailliertes Wissen zusammengetragen und ausgebreitet? Irgendwie verläppert es in der Schlußgeraden: Enzensbergers „Hauptbeschäftigung in diesen Jahren bleibt die Revision früherer Stellungnahmen und Hoffnungen“. Der Autor distanziert sich von der eigenen Essayistik, soweit sie „in der Tradition der Rechthaberei“ steht. Er gründet erneut eine Zeitschrift, ‚TransAtlantik‘, die Lau als Sensation und leserferne „Autorenutopie“ zugleich beschreibt. Nach kaum zwei Jahren wirft Enzensberger das Handtuch. Mitte der 80er Jahre begründet er, zusammen mit dem Verleger Franz Greno, ‚Die andere Bibliothek‘, in der auch zwei Brüder Enzensbergers publizieren. Unter dem Einfluß Luhmanns entwickelt sich der Leitartikler zum Systemmetaphoriker. Selbst die Charakterisierung Saddam Husseins als „Hitlers Wiedergänger“ wird von Lau noch biographisch gelesen – hier spreche ein „Davongekommener“. Der ‚Zeit‘-Redakteur, der Enzensbergers Wandlungen im großen und ganzen geduldig folgt, verliert zwischendurch auch mal das Zutrauen zu diesem Pendel, das zu extremen Bekenntnissen neigt. Als „intellektueller Abbruchunternehmer“ habe sich Enzensberger verstanden. Letztlich beschreibt er ihn als ‚kalten‘, zeitweilig realitätsfernen Pamphletisten, dessen Gesinnungswechsel nicht gerade von Konsequenz und Zuverlässigkeit zeugten. Als Ergebnis ist das etwas dünn, wir wußten es schon von Peter Rühmkorf – der hat die Erkenntnis bereits 1972 und weitaus eleganter formuliert.

Titelbild

Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1999.
288 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3828600492

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