Das Jahrhundert an der Gurgel packen

Elias Canetti liest seine "Komödie der Eitelkeit"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gehörte die Allgegenwärtigkeit der Massen zu den Hauptgegenständen von Elias Canettis Erkenntnisinteressen. An der zionistischen Bewegung in Bulgarien etwa hatte ihn vorrangig das Verhältnis von Führer und Masse fasziniert. Canettis Begriff der Masse, wie er dann vor allem in seinem philosophischen Grundwerk "Masse und Macht" (1960) ansichtig wird, basiert wesentlich auf den persönlichen Erfahrungen des Autors, deren Eigenwertigkeit er ebenso betont wie das seiner historischen Dokumente und Belege, die er in seinen Texten versammelt. Anstoß zur Beschäftigung mit dieser Thematik war neben seinem Erlebnis der großen Demonstration im Sommer 1922 nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau die Erregung der Wiener Bevölkerung beim Brand des Justizpalastes am 15. 7. 1927.

In seiner "Komödie der Eitelkeit" (1933/34) hat sich dann primär die Bücherverbrennung niedergeschlagen, symbolisch gesteigert zu einem totalen Spiegelverbot und Ich-Verlust. Schon 1933, unter dem Eindruck der Machtusurpation Adolf Hitlers und der darauf einsetzenden Flut von Verboten, "welche sich zur Erzeugung von begeisterten Massen verwenden ließen", entstanden, ist die "Komödie der Eitelkeit" jedoch weit mehr als die sich im Titel ankündigende bloße Sittensatire. Aus dem zunächst recht amüsanten Grundeinfall eines generellen Spiegelverbotes und seiner Auswirkungen auf die psychische Disposition des Menschen entwickelt Canetti darüber hinaus eine - die politische Interpretation zeitgeschichtlicher Vorgänge überwölbende - satirisch-philosophische Parabel über den Totalitarismus schlechthin und die mit ihm Hand in Hand gehenden Massenpsychosen. Das Stück greift somit jenes Canetti über Jahrzehnte beschäftigende Thema über die sozialpsychologische und kulturphilosophische Bedeutung von Macht und Masse wieder auf. Der erste Teil der Komödie ("Die große Verführung"), den Canetti in diesem Hörbuch luzide vorträgt, offenbart den massenpsychologischen Mechanismus eines unter Gewaltandrohung vollzogenen Obrigkeitsgehorsams. Um die Eitelkeit, die in letzter Konsequenz für die Individualität des Menschen steht, abzuschaffen, erlässt ein autoritäres System ein Verbot aller Spiegel, Fotoapparate und Porträts und verbietet somit jede Abbildung des Menschen. Jegliches Zuwiderhandeln wird mit der Todesstrafe geahndet. Canetti entwirft eine Grundsituation und lässt seine Bühnenfiguren auf dieses Gedankenexperiment reagieren - von der volksfestartigen Bilderverbrennung bis zum quälend langsam fortschreitenden Ich-Verlust, von der Fanatisierung einzelner Vertreter der neuen Heilslehre bis zu einem rege blühenden Schwarzmarkt. Zu den aufpeitschenden Parolen des Ausrufers Wondrak ("und wir und wir und wir, meine Herrschaften") werden gegen 30 für die Gesamtbevölkerung repräsentative Figuren ("Wiener bis in den letzten Laut ihrer unterschiedlichen Sprachmanieren") vorgeführt. Der Verlust des Spiegelbildes wird durch die hypnotische Wirkung kollektiven Handelns zum Symbol der Verhinderung jedweder Selbstreflexion.

Der zweite Teil, der hier ebenso wie der dritte ausgespart wird, spielt zehn Jahre später und gibt einen Einblick in den Alltag des spiegellosen Landes, das unter den psychischen und sozialen Deformationen seiner Bürger leidet. Der Identitäts- und Sprachverlust findet seine dramatische Steigerung im Massenselbstmord, in dem sich die Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaftsordnung ankündigt. Der letzte Teil schließlich zeigt, wiederum zehn Jahre später, das Endstadium des Deformationsprozesses: In als "Spiegeletablissements" eingerichteten Sanatorien sitzen die autistisch gewordenen Menschen stumpf vor ihrem Bild. Als sich in den Patienten eruptiv Bewusstseinskräfte früherer Zeiten freimachen, reißen alle die Spiegel aus ihren Verankerungen und stürmen mit ihnen, "ich, ich, ich" schreiend, auf die Straßen. Das unterdrückte Ich sucht seine Befreiung in einem Massennarzissmus, eine Rückkehr zu echter Individualität scheint aber nicht mehr möglich zu sein. Somit scheitert letztlich der Versuch der kompletten Auslöschung des Individuums an der Gier des menschlichen Ich-Bewusstseins nach Bestätigung.

"Die Komödie der Eitelkeit" ist, wie die anderen Dramen Canettis auch, ein Vorlesedrama, nicht wirklich bühnenwirksam. Wenn Canetti, wie in seiner Autobiographie "Die gerettete Zunge", völlig zu Recht von der "im Kern" dramatischen Natur aller seiner Texte gesprochen hat, so bezieht sich das auf sein Verfahren, den anderen mit seiner Stimme sprechen zu lassen. Das mag auch erklären, warum, trotz der durch politische Lage und kulturelles Klima jahrzehntelang verspäteten Rezeption von Canettis Œuvre, die Aufführung seiner Dramen bis heute ein Skandalon darstellen. Zum einen liegt dies sicherlich an den thematischen Implikationen der Stücke, berühren sie doch mit ihren drei Themen Macht, Trieb und Tod bis heute gültige Tabuzonen des modernen Menschen, zum anderen aber auch an Canettis besonderer dramatischer Technik: Raum und Figuren sind akustisch überdeterminiert, seine oft grell überzeichneten, in ihrer Drastik an die schrillen Porträts George Groszs erinnernden Figuren werden durch eine "akustische Maske" als Rollentypen geprägt: jede hat ihren individuelle Sprachphysiognomie mit persönlichem Wortschatz, Tonfall, Rhythmus und syntaktischen Eigenheiten. Für die "Komödie der Eitelkeit" ist daneben die scharfe allegorische Konturierung anti-sozialen Sprechens und Handelns sowie die überaus wichtige Energie eines "vollkommen neuen Grundeinfalls" bedeutsam, der, wie Canetti 1937 in einem Interview sagte, "die Welt als Ganzes mit einem neuen Licht beleuchtet" und von dem jedes Drama seinen Ausgang nehmen muss. In der "Komödie der Eitelkeit" ist der "Grundeinfall" auf sinnfällige Weise konkret. Es geht um den Narzissmus als destruktive Isolierungspotenz; es ist hier vor allem der Spiegel, auf den das wahnsinnige Ich-Verlangen isolierter Träger von Spiegel-Ichs fixiert ist. Die Besitzgier drückt sich in den Sprachmasken als mehr oder minder verhüllte Drohgebärde aus. Alle sozialen Beziehungen entpuppen sich als Besitzverhältnisse, eheliche Treue nicht weniger als sexuelle Promiskuität.

Sichtbar wird eine dystopische Gesellschaft, in der alle Spiegel und Photographien zerstört worden sind, um der angeblich anti-sozialen Eitelkeit entgegenzuwirken. Aber die Folge des Verbots des eigenen Abbilds ist gerade die Steigerung der isolierenden Ich-Bezogenheit. Die mehr oder minder normale Ich-Sucht steigert sich durch das Verbot zur pathologischen Ich-Süchtigkeit. Canetti evoziert die politische Tabuisierung dieser Vorgänge mit der bei Karl Kraus entlehnten Symbiose von Wörtlichkeit und Entsetzen. Dementsprechend notierte er 1942 in seinen Aufzeichnungen "Die Provinz des Menschen" zum Drama, es stelle "die göttliche und über alle anderen Künste erhabene Möglichkeit" bereit, "neue Geschöpfe zu erfinden, und je nach ihrer thematischen Fügung eine immer wieder andersgeartete Form. Die Schöpfung, sei es, daß sie erschöpft, sei es, daß der geschwinde Mensch sie überholt hat, wird so ganz buchstäblich ins Drama verlegt." Aber damit ist natürlich nicht gesagt, welcher Art diese Schöpfung ist. Im Falle der "Komödie der Eitelkeit" handelt es sich um eine kompakte Begrifflichkeit, die der Kritiker sprachlich sukzessiv auseinandernehmen, aber der Zuschauer kaum als Ganzes aufnehmen kann, und unter deren Gewicht die Wörtlichkeit ihre Wirksamkeit, d. h. die Auslösung von Entsetzen, zu verlieren droht.

Canetti hat sich nie von irgendeinem seiner Texte distanziert, geschweige denn losgesagt, und er war immer sehr an Aufführungen seiner Dramen interessiert. Im Falle der "Komödie der Eitelkeit" fand er in Hans Hollmann einen der schwierigen Aufgabe gewachsenen Regisseur, die eindeutige Wörtlichkeit wie auch die komplexe Metaphorik des Grundeinfalls - die Tabuisierung und die Käuflichkeit des Spiegelbildes - in den verschiedenen Figurenkonstellationen überzeugend darzustellen. Die Basler Aufführung des Stücks im Februar 1978 wurde, nach der schlechten Aufnahme der Uraufführung 1965 in Braunschweig, ein großer Erfolg, der die Verpflichtung der Inszenierung am Wiener Burgtheater nach sich zog. Die Aktualität - wenn auch nicht notwendigerweise die Spielbarkeit - liegt im Text selbst begründet: Die Problematik des Selbst und des anderen als die des einzelnen in der technokratischen Massengesellschaft hat sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Niederschrift trotz der nicht zu übersehenden emanzipatorischen Erfolge der letzten fünfzig Jahre eher verschärft als vermindert. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass Canettis moralische Unerbittlichkeit und sein kritischer Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft bis heute nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben. Canettis mitreißende Lesung seiner Sittensatire belegt zudem eindrucksvoll die von ihm selbst stammende Bewertung seines literarischen Schaffens, derzufolge es ihm gelungen sei, "das Jahrhundert an der Gurgel zu packen". Folgt man gebannt der Rezitation, drängt sich einem der Eindruck auf, als hielte er es noch immer gepackt. Mit einigem Erstaunen darf man aber auch festhalten: Hätte es 1970 bereits einen so florierenden Markt für Hörbuchproduktionen gegeben, wie es heute der Fall ist, Rufus Beck, der Meister der polyphonen Rezitation, hätte sich eines ebenbürtigen Rivalen erwehren müssen. Umso vehementer lässt sich der Wunsch artikulieren, dass diesem seltenen, exklusiven Hörgenuss möglichst viele Ohrenzeugen beschieden sein mögen.

Titelbild

Elias Canetti: Komödie der Eitelkeit. 1 CD.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002.
64 min, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3455320015

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