Geile Brunst und keusche Liebe

Ulrike Rotmann analysiert männliche Utopien der Geschlechterbeziehung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sind die Utopien der Männer wirklich die Dystopien der Frauen, wie es der feministische Volksmund behauptet? Liest man Lyman Tower Sargents "The Role and Position of Women in the English Eutopia" oder Giovanna Pezzuolis "Prigioniera in Utopia. La condizione della donna nel pensiero degli Utopisti" so findet man ihn schnell bestätigt. Sargent stellt fest, dass die Frauen in allen von ihr untersuchten Eutopien des 19. Jahrhunderts unfrei sind, und nach Pezzuoli reflektieren die weiblichen Figuren in von Männern verfassten Utopien "die verschiedenen Mythen in der männlichen Kultur", indem sie deren "deformierte Vorstellung" von Sexualität literarisieren. So werden die Autorinnen von Ulrike Rotmann zitiert, die ihrerseits die Geschlechterbeziehung in fünf von Männern verfassten utopischen Romanen analysiert. Es sind dies Johann Gottfried Schnabels "Die Insel Felsenburg" (1731-1743), Diderots "Supplément au voyage de Bougainville" (1796), Gerhard Hauptmanns "Die Insel der großen Mutter" (1924), Jewgenji Zamjatins "Wir" (1924) und Ernest Callenbachs "Ecotopia" (1975). Ergänzt wird die Zusammenstellung durch einen Exkurs über Gabriel de Foignys "Terre Australe Connue" (1676), der in der chronologischen Abfolge eigentlich den Anfang hätte bilden müssen, aber an den Schluss des Buches gesetzt wurde, da er als einziger der behandelten Utopien eine Gesellschaft von Hermaphroditen entwirft.

Zwar beruft sich die Autorin ausdrücklich auf die Erkenntnisse der Gender Studien, grenzt sich jedoch strikt von der "schillernde[n] Bezeichnung Feminismus" ab, dessen "militante[n] Analyseansätze[n]" sie die "neutralere Einschätzung des Faktenmaterials" durch die Gender-Forschung vorzieht.

Bevor sie sich den Utopien zuwendet, legt Rotmann die "sozio-kulturelle Basis einer Typologie der Geschlechterbeziehung" dar. Dieser kontextualisierende Abschnitt fällt allerdings dort langatmig aus, wo sie seitenlang über die Genesis der postneolithischen Entstehung des Patriarchats reflektiert oder die (Un-)Wahrscheinlichkeit der frühgeschichtlichen Existenz des Matriarchats erörtert - Fragen, die nur sehr bedingt mit ihrem eigentlichen Thema zu tun haben. Zudem wird die Klarheit dieses Abschnittes durch gelegentliche terminologische Unschärfen getrübt. So stellt die Autorin zwar fest, sie sei sich bewusst, dass sie die Begriffe männlich und weiblich "in ihrer allgemein üblichen, weitgehend klischeehaften Konnotation" benutzt, ohne dass diese Einsicht allerdings weitere Folgen zeitigen würde. Auch ergibt es wenig Sinn, hinsichtlich der Termini Matriarchat, matriarchalisch, matrilinear und matrilokal von einer "Aporie der Begriffe" oder vom "Terminus Matriarchat in seiner Antinomie zu Patriarchat" zu reden. Was hier unter Aporie und unter Antinomie zu verstehen ist, bleibt das Geheimnis der Autorin.

Die Auswahl der untersuchten Romane ist daraus nicht zufällig, spiegelt doch jeder von ihnen ein "grundsätzliches Muster" der Geschlechterverhältnisse und bildet somit ein "Paradigma" für andere Utopien mit "ähnlichen Konstellationen". Darüber hinaus stehen die dargestellten Geschlechterbeziehungen nicht nur im Zentrum der jeweiligen Utopien, sondern bedingten sie geradezu.

Schnabels Modell einer "tugendhaften Geschlechterbeziehung", so die Autorin, propagiert die "Dämpfung der Affekte". Den sowohl von Luther als auch von Aufklärern konstatierten Konflikt zwischen "rein egoistischer Triebnatur" und "gesellschaftsgründender vernünftiger Natur" veranschauliche der Autor als Kampf zwischen "geiler Brunst" und "keuscher Liebe". Obwohl die Frauen in Schnabels Utopie "vorrangig der Mutterrolle verpflichtet" seien, konzediert Rotmann ihm eine "relativ aufgeschlossene Sicht der Geschlechterproblematik". Denn ein "liberaleres Modell der Geschlechterkonstellationen" sei aufgrund des zeitgenössischen Erkenntnisstandes kaum denkbar gewesen.

Bei "flüchtiger Betrachtung" könne sich kein anderes Werk aus der Zeit der Aufklärung von Schnabels Utopie stärker unterscheiden als Diderots bereits 1772 verfasstes aber erst 1796 publiziertes "Supplément au voyage de Bougainville". Das Buch, weniger eine Utopie als eine von Ironie durchsetzte Erzählung der - wie Diderot selbst sagt - Art "conte philosophique", greift den durch Louis Antoine de Bougainville in Europa verbreiteten Tahiti-Mythos einer "paradisische[n] sexuelle[n] Freizügigkeit" auf, der sich letztlich aber auf nichts anderes gründete, als darauf, dass die Tahitianer den Seemännern ihr menschliches Eigentum, d. h. ihre Frauen, zum Gebrauch anboten. Bezüglich der Geschlechterthematik enthüllen sich Rotmann zufolge einem genaueren Vergleich der Werke Schnabels und Diderots mehr "Überschneidungen" als ein erster Blick vermuten lasse. Mehr noch, Diderots "in vielen Belangen so provokative[r] Geist" propagiere ein traditionelles Konzept der Geschlechterrollen mit "patriarchalische[n] Züge[n]", wohingegen sich Schnabels - zwar ebenfalls patriarchalische - Utopie gelegentlich über "zeittypische Geschlechtsasymmetrien" hinwegsetze.

Härter als die Beurteilung der Werke Schnabels und Diderots fällt Rotmanns Verdikt von Hauptmanns "Insel der großen Mutter" aus. Denn unter dem "Deckmantel einer frauenfreundlichen Matriarchatsutopie" präsentiere der Autor "völlig unangefochten" die herkömmlichen Rollenklischees. Fraglos ein zutreffender, allerdings nach der Kapitelüberschrift "Hauptmanns Unentschiedenheit in der Beurteilung der Geschlechterproblematik" doch etwas überraschender Befund.

In Zamjatins ebenfalls 1924 erschienener Dystopie "Wir" werde die Geschlechterdifferenz hingegen auf "groteske Weise" nivelliert. Zwar sei es schwierig, aufgrund des Romans die eigentliche Haltung des Autors zur Geschlechterfrage zu eruieren, doch interpoliert Rotmann aus dem Text eine "Hoffnung auf menschliche Konstellationen", die sich vermutlich durch "ein gewisses paritätisches Verhalten" auszeichneten. Allerdings, so die Autorin, gipfelten auch bei Zamjatin die der Frau "von der Natur gegebenen Rechte" ganz konventionell in der Mutterschaft.

Auch hinsichtlich Callenbachs "Ecotopia" fällt ihr Urteil kritisch aus. Zwar trete der Roman nicht nur als ökologische, sondern auch als feministische Utopie auf. So bestehe auf sozio-ökonomischem Gebiet "absolute Gleichberechtigung" und die "gesamte Sexualität" liege gar allein "im Machtbereich der Frauen". Doch habe Callenbach seine unbewussten Geschlechterklischees nicht unterdrücken können. Seine männlichen Figuren gehörten erkennbar dem "starke Geschlecht" an, während sich sein Weiblichkeitsideal in der Figur Marissa bündle, die ungeachtet all ihrer "Stärke" und "Autonomie" vor allem als "Naturwesen" beschrieben werde.

Vielleicht sind die Utopien der Männer nicht in jedem Fall die Dystopien der Frauen. Deren Utopien sind sie jedoch - zumindest, was die hier untersuchten Werke betrifft - ganz sicher auch nicht.

Titelbild

Ulrike Rotmann: Geschlechterbeziehungen im utopischen Roman. Analyse männlicher Entwürfe.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
250 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3826024486

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