Die Paradoxien des Pessimismus

Eine Studie über den Kulturpessimismus

Von Michael PauenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pauen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Hermans Buch "Propheten des Niedergangs" beginnt mit einer Paradoxie: Obwohl es nach dem Zusammenbruch des Sozialismus de facto keine ernsthafte Alternativen zum westlichen Modell der liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratie mehr gebe, sei dieses Modell auf der theoretischen Ebene noch nie so umstritten gewesen wie heute. "Propheten des Niedergangs", die immer wieder aufs neue den Untergang des Abendlandes verkünden, treten nach Herman in immer größerer Zahl auf und finden Zulauf wie selten zuvor. Mittlerweile befassen sich nicht mehr nur Kulturkritiker und Geschichtsphilosophen mit diesen Problemen; auch Popstars wie Madonna, Politiker wie Al Gore, Institutionen wie der "Club of Rome" oder Desperados wie der kürzlich dingfest gemachte "Unabomber" haben die Parolen des Pessimismus auf ihre Fahnen geschrieben.

Gegenstand des Buches ist der sogenannte Kulturpessimismus. Er sagt sich los von den traditionellen aufklärerischen Fortschrittsvorstellungen und prognostiziert das Ende der abendländischen Zivilisation mit ihren liberalen Demokratien, ihrer instrumentellen Naturherrschaft und ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Doch während etwa die historischen Pessimisten diesen Niedergang bedauern, begrüßen die Kulturpessimisten das Ende der abendländischen Zivilisation, da sie in ihren Augen nichts Besseres verdient hat.

Hermans Buch ist gut lesbar; es stellt die unterschiedlichen Positionen prägnant und im wesentlichen auch zutreffend dar. Ausgangspunkt ist der um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem durch Gobineau initiierte und dann insbesondere in Deutschland rezipierte rassische Pessimismus. Der Niedergang wird hier also vor allem auf die zunehmende Dominanz "untergeordneter" Rassen zurückgeführt, die die mythischen "Arier" verdrängt haben, auf die alle wesentlichen Errungenschaften zurückgeführt werden. Dieser Rassismus wird in Deutschland vor allem durch die Nazis und ihre Wegbereiter, etwa Houston Stewart Chamberlain, rezipiert.

Eine starke Affinität zu rassistischen Vorstellungen beobachtet Herman - zu Unrecht - auch in Spenglers "Untergang des Abendlandes". Nur gelegentlich relativiert er diesen Vorwurf. Tatsächlich hatte Spengler jedoch von "Rasse" erklärtermaßen nur in einem metaphorischen Sinne gesprochen und den Begriff der "Rassereinheit" angesichts der historischen Wanderungsbewegungen als "grotesk" verworfen. Untergang und Verfall ergeben sich für Spengler aus der Eigendynamik der Kulturen. Auch die "faustische Kultur" des Abendlandes ist längst von diesem Verfall erfaßt. Sie befindet sich mittlerweile in ihrem letzten Stadium, dem der Zivilisation, und steht damit kurz vor ihrem endgültigen Untergang.

Ein weiterer Kronzeuge ist neben Arnold Toynbee die Frankfurter Schule, die zur Begründung der Verfallstendenzen auf das theoretische Vokabular der Psychoanalyse zurückgreift: Ein zwanghafter Trieb zur Herrschaft über die Natur hat dazu geführt, daß die ursprünglich zum Wohle des Menschen agierende Aufklärung sich mittlerweile als "instrumentelle Vernunft" gegen die legitimen Interessen des Individuums gekehrt hat, das sich im "stählernen Gehäuse" (Weber) der "verwalteten Welt" vorfindet. Weitere Schwerpunkte bilden Heidegger und die französischen Postrukturalisten sowie der sogenannte Ökopessimismus.

Herman läßt hier eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansätze Revue passieren, doch nicht alle wird man ohne weiteres zu den pessimistischen Antagonisten der liberalen Gesellschaft zählen: Auf der einen Seite stehen zum Teil groteske Katastrophenszenarien, die mit der "absoluten Finsternis" drohen oder gar die abenteuerliche Vorstellung, die AIDS-Epidemie sei ein Befreiungsschlag der Erde gegenüber ihren menschlichen Zerstörern. Auf der anderen Seite rechnet Herman auch die seriösen Prognosen und Vorschläge des "Club of Rome", des "World-Watch-Institute" oder der u.a. von Willy Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission jenem Pessimismus zu, der heute in seinen Augen das intellektuelle Klima in den westlichen Gesellschaften bestimmt. Seiner Ansicht nach erleben wir heute das triumphale Finale einer Entwicklung, in der "die aufgeklärten Verfechter der Tradition des liberalen Westens einer nach dem anderen die Bühne verlassen, während Eugeniker, Rassisten und rassische Pessimisten, Faschisten, Modernisten und Multikulturalisten an ihre Stelle treten".

Nun, glücklicherweise haben Eugeniker, Rassisten, rassische Pessimisten und Faschisten heutzutage zumindest in der literarisch und philosophisch interessierten Öffentlichkeit einen schweren Stand - von einer Dominanz wird man nur schwer reden können. Wichtiger noch, daß man von einer Studie über den Kulturpessimismus genauere Angaben über Unterschiede und Gegensätze zwischen diesen Positionen erwarten kann - Multikulturalismus und Faschismus scheinen nun nicht gerade die engsten Geistesverwandten zu sein.

Dies führt zum wohl schwerwiegendsten Mangel des Buches: Herman gelangt nur selten von der Einzeldarstellung zur theoretischen Analyse. Daher fehlen ihm die Kriterien für die Unterscheidung zwischen einem genuinen geschichts- oder kulturphilosophisch motivierten Pessimismus und einem eher akzidentellen Rückgriff auf einzelne kulturkritische oder pessimistische Motive für die Legitimation von Ideologien oder Machtstrategien, die wie die der Nazis keineswegs pessimistisch sind.

Dieser Mangel wirkt sich auch auf Hermans kritische Stellungnahme zu diesen Positionen aus. Zwar weist er en passant auf Unstimmigkeiten hin, beispielsweise auf den spätestens seit Rickert wohlbekannten performativen Widerspruch, in den sich ein radikaler Kulturkritiker verwickelt, wenn er für sich selbst eine Einsicht in die wahre Beschaffenheit der Dinge in Anspruch nimmt, die es seiner eigenen Theorie zufolge gar nicht mehr geben kann. Eine grundsätzliche Kritik dieser Position, die insbesondere gezeigt hätte, warum die von Herman verteidigte liberale Gesellschaftsordnung sich gegen die Alternativentwürfe der pessimistischen Kritiker durchgesetzt und ihren Untergangsprognosen widerstanden hat, sucht man jedoch vergebens.

Bei einer solchen Analyse dürfte sich zeigen, daß die Prognosen der Pessimisten, so abenteuerlich sie im einzelnen auch sein mögen, keineswegs nur einen "Angriff auf die westliche Kultur" darstellen, vielmehr hat ihre Kritik zuweilen einen rationalen Kern, der dieser Kultur auch zur Weiterentwicklung dienen kann. Dies gilt schon für pessimistische Entwürfe der Vergangenheit, die weit früher als ihre optimistischen Gegenspieler auf Überbevölkerung, Umweltzerstörung, die Folgen der Kulturindustrie oder aber die problematische Rolle des Individuums in der modernen Massengesellschaft aufmerksam gemacht haben. Ein besseres Beispiel ist der von Herman so genannte "Ökopessimismus". Die zum Teil beachtlichen Erfolge beim Umweltschutz wären kaum möglich gewesen, hätten die "Ökopessimisten" die Folgen des bis dato üblichen Raubbaus nicht in den schwärzesten Farben ausgemalt. Zweifellos war dabei eine Menge Rhetorik und wohl auch eine gewisse Faszination an den Katastrophenprognosen selbst im Spiel: Dennoch hatten diese Prognosen offenbar einen rationalen Kern. Die Stärke einer Gesellschaft dürfte sich nicht zuletzt in der Fähigkeit zeigen, diesen rationalen Kern der pessimistisch radikalisierten Kritik zu erkennen und gegebenenfalls entsprechend zu reagieren.

Erkennbar wird dabei eine mögliche Lösung für das eingangs genannte Paradox: Sieht man einmal von den heute glücklicherweise weitgehend verstummten Rassisten und Eugenikern ab, dann gehören die liberale Gesellschaft und ihre pessimistischen Kritiker trotz der unübersehbaren Gegensätze in einer gewissen Weise zusammen. Dies gilt nicht nur, weil die Pessimisten mit ihren Untergangsprognosen jenen Nervenkitzel liefern, nach dem unsere Mediengesellschaft verlangt, sondern auch weil sie - oft in künstlich dramatisierter Form - die Praxis aber auch die ideologischen Voraussetzungen dieser Gesellschaft in Frage stellen und damit eine theoretische Auseinandersetzung in Gang bringen. Insofern greift Herman mit seiner Kritik hier zweifellos zu kurz, dennoch gibt er einen wertvollen Überblick über die verschiedenen Spielarten des Pessimismus, dessen Produktivität sich ihm allerdings nur teilweise erschließt.

Titelbild

Arthur Hermann: Propheten des Niedergangs. Der Endzeitmythos im westlichen Denken.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 1999.
600 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3549056095

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