Trübe Aussichten aus dem 13. Stock

Ein pessimistisches Lamento des Biochemikers Erwin Chargaff

Von Antje GimmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Gimmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erwin Chargaff, der in den USA lebende 94-jährige ehemalige Professor für Biochemie, war in der Mitte unseres Jahrhunderts einer der Protagonisten bei der Entschlüsselung der DNA. Seit geraumer Zeit allerdings wendet er sich vehement gegen die Geister, die er selbst als Naturwissenschaftler einst rief. Wie schon 1981 in "Das Feuer des Heraklit" polemisiert Chargaff auch in seinem neuen Essayband stilistisch und inhaltlich pointiert gegen den Fortschrittsoptimismus der Biotechnologen, gegen den Verfall des Politischen oder gegen die Mittelmäßigkeit der Kunst und Kultur unserer Tage. An Leopardis "tutto é male" erinnert sein Lamento über den unser Jahrhundert kennzeichnenden Verlust von Menschlichkeit und Wirklichkeitsbezug, ein Lamento das sich durch alle vierzehn Essays hindurchzieht. Chargaffs radikaler Pessimismus als Gegengift gegen eine fortschrittsgläubige und vom Machbarkeitswahn besessene Zeit?

Chargaffs Pessimismus ist leider nicht die "bittre aber moralisch heilsame Pille", als die der Schopenhauer-Epigone Eduard von Hartmann den philosophischen Pessimismus im letzten Jahrhundert auszeichnete. Dieser hatte seine Funktion, indem er der optimistisch-aufklärerischen Weltsicht ihre Nacht- und Schattenseite als Spiegel vorhielt. Nur in ihren besten Momenten sind Chargaffs Essays vom wilden Zorn und der Verzweiflung dieses philosophischen und metaphysischen Pessimismus durchdrungen: "Der Zorn darüber, was aus der Welt, aus dem Menschen geworden ist, kann sich nicht erheben ohne die Verzweiflung. Dann müßte die Hoffnung einschreiten, aber sie kommt nicht."

Zumeist aber überwiegt ein nörglerischer Ton, der im Internet das Instrument der Volksverdummung und in den Bioethikern das pseudo-moralische Feigenblatt ungebremster Biotechnologie sieht. Selbst politische Bewegungen wie die Demonstrationen 1989 auf dem "Platz des himmlischen Friedens" in Peking oder vor der Nicolaikirche in Leipzig werden durch das Brennglas des radikalen Pessimismus zur bloßen Bühne für die immer gleichen 100 000 Statisten; für ein unmündiges Volk, das es in Modulen von je 100 000 Stück von der "ewigen Statistenagentur" fertig lieferbar gibt. Und die Medien tun nach Chargaff ein übriges: Politik wird zum Kitsch, die Bilder ersetzen die Inhalte.

Selbstverständlich landet Chargaff mit seinen ausgesuchten Boshaftigkeiten den einen oder anderen Treffer, beispielsweise wenn er die praktische Bedeutungslosigkeit von aufgeblähten Expertenkommissionen aufspießt, die von den Umweltschäden, die sie begutachten und für die sie Abhilfe schaffen sollen, recht einträglich leben. Und so ist es sicher auch richtig, daß der naive Internet-Enthusiasmus Wissen mit Information, Erfahrung mit Bites verwechselt und sich in Ausdrücken wie "Information Superhighway" selbst entlarvt.

Allerdings hinterläßt die Abrechnung mit unserem Jahrhundert, das Chargaff mit Hobsbawm ein "kurzes" nennt, einen bitteren, aber wenig heilsamen Nachgeschmack. Zu undifferenziert ist die Gleichung, die er immer wieder anwendet. Früher war alles besser: "Ich bin nämlich einer von jenen, die viel eher betrauern, was wir verloren, als bejubeln, was wir gewonnen haben." Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, nur möchte man doch gerne wissen, warum die Verluste rundweg immer höher sind als die Gewinne und welches der Standpunkt ist, von dem aus geurteilt wird. Und hier kommen wir nun zum Kern des Chargaffschen Pessimismus: Dieser speist sich aus dem altbekannten platonischen Dualismus zwischen Idealität und Realität. Und in dieses Schema von Ewigkeit da, Zeitlichkeit und Verfall hier, von Sein und Schein also, ordnet Chargaff fleißig ein: Da das enzyklopädische Wissen des Gutenberg-Zeitalters, das - zur Gewißheit nobilitiert - jeder Widerlegung standhält; hier das "gehackte Wissen" und die Informationsflut des "Multimedien-Daseins", wo kurzlebige Slogans zur kommerziellen Verwertbarkeit produziert werden.

Die naturwissenschaftliche Forschungspraxis des beginnenden 20. Jahrhunderts wird zur rein anschauenden und nicht eingreifenden Theoria verklärt und kontrastiert gegen die derzeit sich entwickelnde Verwertung und Patentierung des Lebendigen. Vielleicht ist dies der Punkt, wo den Biochemiker Chargaff das blanke Entsetzen packt: daß die vermeintlich theoretische Einstellung des Naturforschers, den die Neugier umtreibt zu wissen, 'was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält', nie frei war von ihrer technischen Verwertung. Unfreiwillig trägt Chargaffs Pessimismus damit zu seinem Gegenteil bei, nämlich zur notwendigen aufklärerischen Selbsterkenntnis, daß die Kehrseite einer metaphysisch verklärten Grundlagenforschung gerade die moral-abstinenten Verwertung erst möglich gemacht hat, die Chargaff jetzt so ausdauernd beklagt.

Titelbild

Erwin Chargaff: Die Aussicht vom 13. Stock. Neue Essays.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998.
215 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3608934332

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