Eine Hausapotheke zum "morbus Nietzsche"

Henning Ottmanns "Nietzsche-Handbuch" ist ein Meilenstein der jüngeren Nietzsche-Forschung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor etwas mehr als 100 Jahren starb Friedrich Nietzsche nach zwölfjähriger geistiger Umnachtung in Weimar. Niemand vor ihm hat mit solcher Radikalität versucht, das abendländische Denken aus den Angeln zu heben. Und niemand hat eine insgesamt so widersprüchliche und verhängnisvolle Wirkungsgeschichte entfaltet wie dieses Genie der Einsamkeit. Ihn erschreckte der Gedanke, "was für Unberechtigte sich einmal auf meine Autorität berufen werden". Vor allem hat Nietzsche die ungeheuren Möglichkeiten menschlicher Selbststeigerung und Selbstvernichtung beschworen, vorweggenommen und gefürchtet. Er selbst war den Nachkommenden kein 'Einfluss', sondern ein Ansteckungsherd. Wie bei Heine war das Virus, mit dem er seine Leser infizierte, sein Stil. Ansteckend war zuerst der "Zarathustra", der schon das Megaphon erahnen lässt und mit dem im Gepäck ganze Horden deutscher Intellektueller und Kulturpropheten mit Hurrapatriotismus in den Ersten Weltkrieg zogen. Dazu kam die neue Freiheit im Gebrauch des Wortes "Ich", die alles zu kritisieren erlaubte. Vor allem aber forderte Nietzsche bei der deutschen Intelligenz das schriftstellerische Bewusstsein: Die Essays von Thomas Mann und Gottfried Benn sind ein Echo dieser großen Provokation, Adornos "Minima Moralia" nehmen die Aphoristik der mittleren Periode auf. Die Reihe der Dichterfürsten, für die sein Bilderkosmos Nervenkitzel und Futter der Imagination war, ist lang und eindrucksvoll. Sie reicht von Strindberg bis Yeats, von Rilke bis Pound, von Mann bis zu Benn, um nur die wichtigsten Mitglieder im Nietzsche-Club zu nennen. Was sind die Idiosynkrasien des einsamen Hochgebirgswanderers noch wert, wenn sie sich derart auflösen lassen in griffige Zitatcollagen? Welche Entsorgung findet hier statt, wenn ein Leben, das wie kaum ein anderes aus extremen Gedanken bestand, zu handlichen Biographien komprimiert wird, wenn ein Denken und Wissen, das sich als Nichtwissen weiß, in wissenschaftlichen Abhandlungen de- und wieder rekonstruiert wird?

Nietzsches Philologie ist zu einer Wissenschaft dessen geworden, was bisher den Namen der Schrift nicht trug. Seit Nietzsche ist das Schreiben nicht nur das einsame Kratzen der Feder in der Totenstille der Nacht. Es ist nicht nur der ästhetische Nullpunkt einer Literatur, die sich an "alle und keinen" richtet. Und es ist auch nicht allein jenes Gekritzel, mit dem Nietzsche selbst in seinen Notizheften Stilproben an Stilproben, Zitate an Zitate und Einfälle an Einfälle reiht. Das Schreiben, das Lesbare, die Spuren der Schrift sind vielmehr überall: in und auf den Körpern, in den Affekten und in ihrer Geschichte, in den Gewohnheiten des Gewissens und in den Attitüden des Verstands, in Verhaltensweisen und in Nervensystemen, im vitalen oder ausgezehrten Leben. Berühmt geworden ist sein Bonmot vom Eingravieren des Gedächtnisses in Körper und vom Schmerz als "mächtigste[m] Hilfsmittel der Mnemotechnik". Was der Philologe Nietzsche verfolgt, ist eine umfassende "Graphie", die sich über lange Zeiten hinweg in die Schreibflächen aus Fleisch und Blut, aus lebendem und totem Material eingegraben hat. Noch die Sprache selbst spricht nicht einfach in Wörtern und Sätzen, sondern mit einer Macht, mit der sich ein Wort so oder so in eine Kultur, in die Geschichte einer Kultur eingeschrieben und seine Dauer als Hieb-, "Schlag- und Stichwort" gesichert hat. Mit dieser Wendung ist Nietzsches Philologie zu einer ausschweifenden, lasziven und vielleicht nomadischen Wissenschaft geworden, die nicht an den Grenzen von Fächern und Disziplinen anhält. In ihr stoßen Historie und Physiologie, Psychologie und Physik, Ästhetik und Medizin aneinander und machen deutlich, dass noch der elementarste Sachverhalt einer Kultur in heterogene Daten und Geschichten zerfällt. Die Kunst, "gut zu lesen", bezieht sich daher nicht bloß auf Sicherung und Weitergabe von Überlieferung, Sinn und Bedeutung oder besser: Sie erkennt Sinn und Bedeutung nur dort, wo sich unterhalb von Vorstellungen und Repräsentationen Kräfte und Kraftverhältnisse artikulieren. Hat Nietzsche wie kaum ein anderer das Wissen des 19. Jahrhunderts aufgesogen, so hat er dessen heimlichen Leitbegriff, den der Energie, zur Analyse seines Zeitalters gewendet und sich als erster Energetiker von Wahrheiten und Werten präsentiert.

Nietzsches energetische Philologie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Krankheit, die seinen Namen trägt: dem "morbus Nietzsche", dessen Viren für eine postmoderne oder poststrukturalistische Seuche im 20. Jahrhundert gesorgt haben. Ihre schillernde Symptomatik, ihr schleichender Zerfallsprozess, dem jede Gewissheit zum Opfer fällt, ihre bewusstseinssteigernde Wirkung, all das ist durchaus epidemisch geworden, seitdem wir als individuelle Resultate einer Moderne, die alle Körper erfasst hat, jederzeit teilbar und auflösbar sind. Bar jeder Hoffnung und Letztbegründung, sausen wir, in jeder Hinsicht und neuerdings auch genetisch enträtselt, durch eine menschengemachte Landschaft, die Nietzsche zuerst als Wüste erkannt hat. Keiner vor ihm hat sich so weit in posthumanes Gelände hinausgewagt. Die Abwesenheit von Sinn und Ziel ist uns seitdem das Vertrauteste auf der Welt, das Denken des Nihilismus stellt die Ruine unserer "Wahrheitsbaukünste" aus und gibt den Blick frei auf eine Wüste des Sinns. Und dabei konfrontiert er uns aufs Neue, bis hin zu Schmerz und Angst, mit "nichts" - sobald das Denken seiner eigentlichen Aufgabe nachkommt und jeder Sicherheit entsagt.

Eine solche Zentrifuge von Widersprüchen ist nur auszuhalten, wenn ihr Motor ein rücksichtsloses Denken ist. Und sie ist nur ernst zu nehmen, wenn dieses Denken aus der Not des eigenen Daseins stammt. Das ist bei Nietzsche in obsessiver Steigerung der Fall. Er ist ein Seismograph für die Erschütterungen der eigenen Existenz. Mit extremer Ausdruckskraft verzeichnet er auch noch die kleinsten Beben des menschlichen Leidens. "Humani nil a me alienum puto" - darauf gründet sich Nietzsches Selbstversuch mit dem Denken. Auf der Spitze der ästhetischen Moderne führt er die Abgründigkeit des Menschen vor, und er hat in allem Leiden an sich selbst seine größte Lust daran. Er ist nicht nur der Extremist, sondern auch der Artist der menschlichen Selbsterkenntnis. Darin hat er, trotz Sokrates, Epiktet und Augustinus, trotz Montaigne, Pascal und Rousseau, seinen historischen Rang. Aus Kants "Höllenfahrt der Erinnerung" hat er noch eine "fröhliche Wissenschaft" gemacht. Es konnte vermutlich nicht ausbleiben, dass ein Widersprüche existentiell auslotendes Denken wie dasjenige Nietzsches schwere und schwerste Missverständnisse evoziert(e). Die Vereinnahmung durch den Faschismus italienischer wie deutscher Prägung hat sein Werk besonders belastet, zumal manches Indiz gegen Nietzsche zu sprechen scheint: Die Kraftmeierei des "Willens zur Macht", das (natürlich 'pädagogisch' gemeinte) Gerede von "Zucht und Züchtung" und nicht zuletzt die billige Polemik gegen "Communisten", "Socialisten", "Liberale" und Juden ("jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler"). Alles dies sollte so hellhörig gegenüber Nietzsche machen, wie er es selbst gegenüber allem war. Erfreulicher Weise hat die Erforschung von Nietzsches Philosophie seit dem Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe große Fortschritte gemacht. An die Stelle des Autisten ist das Bild eines Denkers getreten, dessen Texte aus einer Vielzahl von Quellen und Lektüren zu erschließen sind.

An diesem Punkt setzt das glanzvolle Unternehmen des bei Metzler erschienenen Nietzsche-Handbuchs ein, an dessen Zustandekommen etwa 50 ausgewiesene Nietzsche-Experten aus dem In- und Ausland mit 169 Artikeln mitgewirkt haben. Das Handbuch erschließt in einer ersten Abteilung die Epoche und das Leben Nietzsches, eine zweite Abteilung stellt jeden der Texte Nietzsches doxographisch und in chronologischer Reihenfolge vor. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass auch die Gedichte, die Kompositionen und die Philologica, der Nachlass der 80er Jahre und die Briefe gewürdigt werden. Die dritte Abteilung umfasst ein Lexikon, das von A ("Antisemitismus") bis Z ("Züchtung") Begriffe, Theorien und Metaphern erläutert. Die vierte Abteilung stellt die Philosophie Nietzsches in ihren Voraussetzungen vor und diskutiert dabei die wesentlichen Intertexte, die in Nietzsches Texte eingegangen und zum größten Teil erst in den letzten Jahrzehnten erschlossen worden sind. Die fünfte und letzte Abteilung widmet sich Aspekten der Rezeption und Wirkung, die in Altphilologie und Pädagogik, Psychologie und Soziologie genauso enorm waren wie in Architektur und Musik, in Dichtung, Philosophie oder Politik, und bietet damit eine wertvolle Orientierung innerhalb einer längst nicht mehr zu überschauenden Nietzsche-Forschung. Dem eigenen Anspruch nach will das Handbuch "fern aller Nietzsche-Verteufelung und fern aller Nietzsche-Verherrlichung nichts als eine Hilfe für die Schule des genauen Lesens sein." Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser eher bescheidene Anspruch glücklicher Weise übererfüllt wurde. Henning Ottmann und seinen Mitarbeitern ist mit dem Nietzsche-Handbuch ein großer Wurf gelungen, der die Nietzsche-Forschung der nächsten Jahre zweifelsohne auf eine neue Basis stellen wird. Mit einigem Recht hat Durs Grünbein einmal die These geäußert, dass keiner von denen, die schlaflos über Deutschland grübeln, jemals ohne Nietzsche wach bleiben könne. Jetzt ist dem einsamen Denker in Form des Handbuchs ein unentbehrliches Hilfsmittel und treuer Begleiter für die vielen schlaflosen Stunden erwachsen. Ebenso wenig wie man an Nietzsche vorbei kommt, kommt man nun an diesem Meilenstein der jüngeren Nietzsche-Forschung vorbei.

Titelbild

Henning Ottmann: Nietzsche Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
600 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3476013308

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