Bildungsmisere

Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende

Von Anja SchonlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Schonlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fehlende Einsicht in die Psyche der jungen Schüler - diesen grundlegenden Mangel und andere Mißstände konstatiert Joachim Noob bei Eltern und Lehrern der unglücklichen literarischen Schülerfiguren der Jahrhundertwende. Unter dem autoritären Erziehungsdruck und verstrickt in Pubertätswirren beenden die Jugendlichen in der einschlägigen Literatur dieses Zeitraums ihr Leben vielfach durch Selbstmord. An Wedekinds "Frühlings Erwachen", Hesses "Unterm Rad" und Strauß' "Freund Hein" untersucht Noob exemplarisch die inneren und äußeren Bedingungen dieser verzweifelten Tat der Heranwachsenden. Dabei erweisen sich in seiner textimmanenten Untersuchung vor allem Eltern und Lehrer, zum Teil auch Freunde, als egozentrisch, ehrgeizig und verständnislos. Die Familie versage ebenso wie die Bildungsinstitution Schule bei der Erziehung der orientierungsbedürftigen Jugendlichen.

So artikuliere der lebensmüde Moritz Stiefel in "Frühlings Erwachen" wiederholt die existenzbedrohenden Ansprüche seines Vaters. In "Unterm Rad" erziehen Rektor und Lehrer den jungen Hans Giebenrath zu zweifelhaftem Bildungshochmut. Als er ihren Erwartungen in der Maulbronner Klosterschule nicht entsprechen kann, versagen ihm seine Erzieher ebenso wie sein Vater ihre Zuwendung. Zeigt "Freund Hein" auch keine zynische Wedekindsche Überspitzung der Autoritäten, so sind es doch die Anforderungen der Schule und die Erwartungen des Vaters, die Heiner Lindner die Musik zugunsten der Mathematik aufgeben und ihn zur Pistole greifen lassen.

Diesen sorgfältigen und einfühlsamen Interpretationen hat Noob im ersten Drittel seiner Dissertation einen Einführungsteil vorangestellt, der einen Überblick über die moralische Bewertung des Selbstmords seit der Antike bis zur Gegenwart bietet. Unterteilt ist diese Darstellung in einen historischen Abriß von Philosophie, Religion und Wissenschaft von Homer bis Freud und der Selbstmordforschung des 20. Jahrhunderts. Die fundierte Einführung in das Thema Selbstmord steht mit wenigen Ausnahmen (Freud) jedoch nicht in einem systematischem Zusammenhang mit dem Interpretationsteil.

Die Frage, ob England die Prädisposition zum Selbstmord fördere, verdient beispielsweise kein eigenes Teilkapitel, da das Land - geschweige denn England - keinerlei Bedeutung für die literarische Aufarbeitung des Schülerselbstmord hat. Besonders bei dem ausführlichen Überblick über die Selbstmordforschung ist zu überlegen, ob die Unterscheidung zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch in der Suizidforschung für die behandelten Texte überhaupt relevant ist. Auf der anderen Seite zieht Noob in seiner Schlußbemerkung auch keine expliziten Parallelen zwischen den erarbeiteten Leidensaspekten der Schülerfiguren der Jahrhundertwende und den Ergebnissen der heutigen Forschung zum Selbstmord von Kindern und Jugendlichen.

Der Autor kommt in der Zusammenfassung seines historischen Einleitungsteils zu dem Ergebnis, daß weder Philosophie, Religion, Soziologie noch die Suizidforschung das "innere Wesen" des Selbstmords vollständig aufdecken können. Seine eigene Darstellung habe er geschrieben, damit "ein tieferer Einblick in die inneren Beweggründe gewonnen werden kann, der zu einem umfassenderen Verständnis für die einmal getroffene und nicht wieder rückgängig zu machende Entscheidung beitragen soll". Es bleibt die Frage, ob eine literaturwissenschaftliche Arbeit allein schon aufgrund ihrer vermutlichen Zielgruppe das beste Medium für diese Art von Verständnisarbeit sein kann. Zumal es bei diesem Thema nicht ausbleibt, daß zwangsläufig längst offene Türen eingerannt werden, wenn Noob ein heutiges pädagogisches Ideal der desolaten Situation eines wilhelminischen Schülers gegenüberstellt.

Den Untersuchungszeitraum hat Noob gewählt, "weil sich hier erstmals das literarische Genre des Schülerselbstmords manifestierte und zu einer breiten Beachtung gelangte". Die Bedingungen dafür sieht er unter anderem in der Reformbewegung, in den veränderten Berufsperspektiven für die Jugendlichen zusammen mit dem wachsenden Ehrgeiz der elterlichen und schulischen - vorzugsweise männlichen - Erzieher. Auch hier bezieht sich Noob ausschließlich auf die sozio-historischen Veränderungen und vernachlässigt den ästhetischen Umbruch, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Wende vom Schönen zum Wahren vollzogen wird.

Bei dem kritischen Untertitel der Arbeit, "Non Vitae sed Scholae discimus", handelt es sich nicht, wie von Noob angegeben, um seine Umkehrung "der populären Ansicht, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen", sondern um die orginale Formulierung Senecas aus dem 106. Brief an Lucilius.

Insgesamt ist die Arbeit von soziologischen und pädagogischen Interessen geprägt, was zu Lasten der literaturwissenschaftlichen Systematik der Arbeit geht, im Interpretationsteil aber durchaus zu begrüßenswerten Ergebnissen führt.

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Joachim Noob: Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1998.
250 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3825306968

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