Schillernd wie ein Hämatom

Christoph D. Brummes "Süchtig nach Lügen" ist mehr als ein tragikomischer Liebesroman

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Blau ist die Lüge bei Chabrol, rot bei Kieslowski, bei Christoph Brumme schillert sie sogar in den Regenbogenfarben der Hämatome. Denn nicht einmal die Schläge, die Bisse am Ende dieser unerhörten Liebesgeschichte sind wahrhaftig, grausam oder wenigstens verzweifelt. Sie fallen mit der selbstverständlichen und auch komischen Folgerichtigkeit eines Verblendungszusammenhangs, kaum etwas anderes existiert darin als die imaginierte Zweier-Welt. Liebeswahn beherrscht die Protagonisten, und die Liebe hört bei ihnen oft genug auf den Namen Narziss. Erkenntnis des Anderen bleibt ihnen - allen Anstrengungen zum Trotz - unmöglich. Wie konstatiert Georg Büchners Danton illusionslos: "Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder einander ab, - wir sind sehr einsam ... Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren."

Hannah und der Ich-Erzähler sind nah dran, sich an diesen Vorschlag zu halten. Kampf, Leidenschaft, Aggression stehen schon am Beginn der gefährlichen Liaison. Nichts ist einfach an ihrer Bindung, verhängnisvoll alles, ob die beiden zusammen ausgehen, ob sie zusammen einkaufen, ob sie zusammen schlafen, ob sie zusammen in Urlaub fahren. Ansatzlos beginnen immer wieder Auseinandersetzungen, erst tändelnd, scherzend, spielerisch, bald in Streits ausartend, denen Tränen, Wut, Verachtung folgen. Ungleich scheinen die Rollen dabei verteilt, denn Hannahs exzentrischer Charakter wirkt - oberflächlich betrachtet - als Auslöser für den verbissenen Austausch von Worten.

Tatsächlich liebt sie es nicht nur, ihre Biografie stetig umzudeuten, sie liest dem aktuellen Partner auch gerne Briefe ihrer Verflossenen vor, sie geht dick eingecremt und in allerlei Wollzeug eingemummelt ins Bett, gibt Beischlafanweisungen, die zwischen Krankengymnastikvorschriften und der Gebrauchsanweisung für einen Videorekorder schwanken. "Nur an einer stecknadelkopfgroßen Stelle war sie erregbar. Sie half mir, diesen Punkt zu finden, denn er wanderte von Tag zu Tag woanders hin. Mit der äußersten Spitze des Mittelfingers sollte ich sie nun in kreisenden Bewegungen, im Uhrzeigersinn, etwa eine Stunde lang, gleichmäßig erregen." Vor allem aber ist Hannah eine Meisterin der Worte. Keines kann sie im Besitz seiner Bedeutung ungestört lassen. Sprunghaft wie ihre Launen sind ihre Argumentationsgewohnheiten, frei von alltäglicher Logik schweifen ihre Gedanken. Keine ihrer Aussagen darf dem Gegenüber als verlässlicher Grund einer Aussprache erscheinen, denn im Nu widerruft sie sie oder präsentiert sie in unerwarteter Umdeutung: "Du sollst nicht glauben, was ich sage, antwortete sie. Ich wollte dich testen." Ihre Selbstverliebtheit zeigt sich ungeschützt und schrankenlos, ihre Selbstbestätigungsgier grenzt an Pathologie.

Leicht wäre es gewesen, über so eine Figur eine Satire zu schreiben. Doch Brumme versagt sich in der Regel den billigen Effekt. Ihn interessiert nicht allein die dem Wahnsinn nahe Hannah, ihn interessiert genauso die fast schon selbstzerstörerische Manie des Ich-Erzählers, diese Frau zu erziehen, vielleicht sogar zu knacken und hinter das Geheimnis ihrer verwirrenden Existenz zu kommen. Mehrfache Trennungen dokumentieren nur, wie unfähig er dazu ist. Seine Ruhe, Vernunft, Argumentativität erweisen sich sehr schnell als untauglich für einen Austausch mit Hannah, dennoch hält der Ich-Erzähler genauso störrisch an ihnen fest wie an der Beziehung. Für Hannah ist die Sache klar: "Du redest mit mir wie mit einer Kuh, die geschlachtet werden soll. Du redest alle Probleme klein ... Du willst immer stark sein ... Deshalb entstehen unsere Probleme, weil du über mich nachdenkst. Du sollst mich genießen, nicht nachdenken." Dazu aber ist der Ich-Erzähler unfähig, zu sehr ist er in die Bindung verstrickt, zu fasziniert von dieser eigenartigen, verstörenden und offensichtlich sexuell sehr anziehenden Frau, selbst wenn sie außer der Missionarsstellung und "Handmassage" im Bett keine Varianten zulässt.

Weil sich Brumme - nach einer kurzen Einleitung - fast ausschließlich auf die Szenen dieser verrückten Liebe konzentriert, weil er sich seitenweise auf die Stärke der manchmal geradezu gehirnerweichend grotesken und doch realistischen Dialoge stützt, entfaltet sein Buch eine wunderbare Wirkung wie man sie aus Dostojewskis spätesten Prosawerken oder aus Strindbergs "Eheinferno" kennt. Die Abgründe der Menschen gähnen jäh, während scheinbar nur Urlaub gemacht wird. Im beinahe psychotischen Terrorisieren blitzt plötzlich Witz auf.

Schwächen dürfen allerdings nicht verschwiegen werden. So spielt Brumme in verzeichnender Form auf Georg Brittings beunruhigende Erzählung "Brudermord im Altwasser" an und die stete Wiederholung der Sage-Verben wirkt misslich. So trennscharf und eindeutig wie Brumme die Charaktere vor die Leser stellt, wäre dies unentwegte "sagte sie", "antwortete ich", "fragte sie" in sehr vielen Fällen überflüssig. Die wunderbare Lakonie, die Kargheit der auf die Situationszeichnung durch Dialog setzende Prosa gewänne dadurch nur um so mehr, ebenfallsb wie Komik und Tragik des Geschilderten!

So peinlich genau und faszinierend auch Brumme die kuriose Hölle einer katastrophalen Beziehung schildert, sein Buch reizte weniger, beschränkte es sich auf die Hassliebe allein. Doch eingestreut in die Begebenheiten zwischen Hannah und dem Ich-Erzähler finden sich bedrängende Geschichten und Erinnerungen der beiden. Plötzlich beginnen sie und plötzlich enden sie. Manche nähern sich der Sphäre von Brummes höchst eindrucksvollem Erstling "Nichts als das" an, vor allem wenn vom Vater die Rede ist. Familientraumata scheinen auf in grellen Flashbacks: der Vater, der den Sohn in widerlicher Weise aufklärt, ihm zur Geldwirtschaft erzieht oder ihn aus Futterneid verachtet; der Onkel, der im Wahn die eigene Frau ermordet; Hannah, die mit verhülltem Gesicht durch ihr Heimatdorf geht. Hier spürt der Leser unmittelbar, dass die Sucht zu lügen, schon vor jeder Beziehung eine notwendige Überlebensstrategie sein kann.

Titelbild

Christoph D. Brumme: Süchtig nach Lügen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
208 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462031317

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