Flaschenpost

Paul Celan liest seine eigenen Übersetzungen der Gedichte von Sergej Esenin und Osip Mandel'štam

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Erfahrung besonderer Art stellten immer wieder die öffentlichen Lesungen Paul Celans dar. Stellvertretend für viele und wohl auch verschiedene Erlebnisse mag der Bericht Joachim Günthers von der Lesung Celans im Literarischen Colloquium in Berlin 1967 stehen. Dort heißt es vielsagend: "Celan spricht relativ leise, aber doch deutlich mit 'Charakter', Subjektivität, ja mit einem rhythmisch bewegten Pathos, das sich nicht immer deutlich in jedem einzelnen Wort artikuliert. Das Überraschendste waren hierbei die starken Abweichungen des Sprechers vom gedruckten Bild seiner Verse in der Zeilenbrechung, ja sogar in den Strophenzäsuren. [...] Im Allgemeinen hält sich der Dichter als Rezitator erstaunlich eng an die grammatisch-syntaktischen Strukturen seiner Verse, mit Betonung des Sinns und mit verhältnismäßig geringer Rücksicht auf die dem Vers im Bild beigegebenen Atemeinheiten." Ziemlich nahe kommt Günther dem modus recitandi Celans, wenn er bemerkt, dass die Sprache dieser Gedichte sich eher aus ihrer An-Rede entschlüssele: "ihr Wort liegt vor dem Begriff, auch wenn es nichts weniger als ein begriffsloses, nur 'tönendes' Wort ist".

Bereits in der Büchner-Preis-Rede "Der Meridian" vom Oktober 1960 skizziert Celan eine Dichtung, die "im Geheimnis der Begegnung" steht, Anrede und damit wesentlich Gespräch zwischen einem Ich und einem Du ist, das vielerlei Gestalt annehmen kann. Das Gedicht Celans steht eben deshalb "im Geheimnis der Begegnung", weil hier eine Art mystischer Erkenntnis im Moment des Zusammentreffens aufscheinen kann, wie sie anders nicht möglich ist. Zuwendung und Abwendung, Abgrund und Hoffnung kreuzen sich auf einmalige Weise, leuchten im Augenblick ihrer Gleichzeitigkeit auf und machen das letztlich Unaussprechliche im Moment des Gedichts sichtbar. Andererseits bedeutet "Geheimnis" hier auch die Tendenz Celans, die äußerlichen Spuren solcher Begegnungen, die neben Personen und Texten auch sprachliche "Begegnungen" oder eben mystische Erlebnisse einschließen, in der endgültigen Erscheinungsform des Gedichts wieder zu verhüllen.

Dank einer Reproduktion des Hörverlags kann nun auch eine der wesentlichen dichterischen und persönlichen Begegnungen Celans jenseits gelehrter Lektüren akustisch wieder entdeckt werden: Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der russischen Literatur der Moderne steht die Begegnung mit dem russisch-jüdischen Dichter Ossip Mandel'štam. Celan las 1967 seine eigenen Übersetzungen der Gedichte Mandel'štams (und Esenins). Sein Lesen auch der übersetzten Texte ist Ausdruck einer poetischen Aneignung. Vor allem Mandel'štam war für ihn ein Wahlbruder, sein Alter ego, dem er auch den Gedichtband "Die Niemandsrose" widmete. Der Ausgangspunkt für diese so unbedingte Zuneigung waren frappierende biographische Parallelen: Judentum, Verfolgung, Konzepte exilischen Schreibens, Selbstmordversuche, Einsamkeiten, Plagiatsanschuldigungen, Verketzerung der Texte und nicht zuletzt Sympathien für einen Sozialismus ethisch-religiöser Prägung. Celans Wunsch nach Identifikation mit dem seit 1934 Verbannten und Ende 1938 im Gulag, in der Nähe von Wladiwostok, zu Tode Gekommenen ging so weit, dass er damals, als Todesort und -zeit Mandel'štams noch nicht gesichert waren, lieber der Version Glauben schenkte, dass die Nationalsozialisten den Dichter umgebracht hätten. Sein Tod rückt damit räumlich und zeitlich in unmittelbare Nähe zur Vernichtung von Celans Eltern im Winter 1942/43 in der Ukraine. Diese Angaben zeigen Celans Bereitschaft an, das Schicksal Mandel'štams eher als Teil des Jahrhundertschicksals der jüdischen Bevölkerung in Europa, ihrer durch Deutsche betriebenen Ausrottung, zu verstehen, als es im Zusammenhang der politisch begründeten Vernichtung mutmaßlicher Gegner durch Stalins Schergen zu sehen. Als Vorwurf für Mandel'štams gewaltsamen Tod erscheint somit in erster Linie seine jüdische Identität, nicht seine geistige Haltung - eine für Celans Mandel'štam-Rezeption nicht unwesentliche Deutung. Denn es war die spezifische jüdische Konstellation, die - neben der ästhetischen Dimension, die sein Werk über das seiner Zeitgenossen heraushob - im Laufe des Jahres 1960 Mandel'štam zum wichtigsten Autor nicht nur der russischen Literatur für Celan machte. Entscheidend war zudem, dass Celan bei Mandel'štam, der unter einem vergleichbaren "Neigungswinkel seiner Existenz" schrieb, eine ihm verwandte Auffassung des Poetischen, nicht des poetischen Stils, fand, die auf "Kreatürlichkeit" und "Wahrheit" der dichterischen Sprache zielte. "Individuation", "Präsenz" des Gedichts, das "in die Zeit hinein[steht]", "gezeitigte Sprache", Gedichte als "Daseinsentwürfe" - das sind Stichworte, mit denen Celan in seinem Radioessay von 1960 Mandel'štams Dichtung, aber ebenso auch die eigene charakterisierte.

In Bukarest 1945-1947 hatte Celan bereits aus dem Russischen ins Rumänische übersetzt. Zehn Jahre später, 1957, nahm er seine russischen Lektüren wieder auf, wobei er sich jetzt auf ihm früher nicht zugängliche moderne Lyrik konzentrierte. Innerhalb weniger Jahre entstand eine umfangreiche russischsprachige Bibliothek, und Celan übersetzte Gedichtbände von Aleksandr Blok und Sergej Esenin sowie einzelne Gedichte anderer russischer Lyriker des 20. Jahrhunderts (Majakovskij, Pasternak, Chlebnikov, Evtušenko) ins Deutsche. Ein professioneller Übersetzer war er längst. Im Lauf seines Lebens hat Celan Texte von 43 Autoren aus sieben Sprachen übersetzt und als Grenzgänger zwischen deutscher, jüdischer, romanischer, slawischer und angelsächsischer Kultur und Literatur gewirkt. Doch die Begegnung mit den russischen Lyrikern, die zwischen den Utopien der Revolution von 1917 und der Verfolgung unter Stalin standen und "von ihrer Generation 'vergeudet' wurden", unter ihnen wiederum "Bruder Ossip, der Russenjude,/ der Judenrusse" Mandel'štam an erster Stelle, nimmt einen besonderen Platz ein und ist von existenzieller, nicht nur ästhetischer Bedeutung. In der Einlassung auf ihn kam das am klarsten zum Ausdruck, was anspruchsvolles Übersetzen für Celan bis zum Ende seines Lebens bedeutete: das fremd(sprachig)e Gedicht als eine ins Ungewisse hinein aufgegebene "Flaschenpost an Herzland" anlanden zu lassen, mit ihm ins "Geheimnis der Begegnung" einzutreten und durch diesen "Fergendienst" des 'Über-Setzens' das Paradoxon der "Fremden Nähe" - so der Titel einer von Celan geplanten, aber nicht realisierten Lyrikanthologie - herzustellen. Celan betonte zwar seine "ständige [...] Bemühung um philologische Genauigkeit" beim Übersetzen, aber es ging ihm, wie er in einem Brief an Emmanuel Raïs vom 29.1.1959 hervorhob, "vor allem darum, bei größter Textnähe das Dichterische am Gedicht zu übersetzen, die Gestalt wiederzugeben, das Timbre des Sprechenden." Manchen Kritikern war das identifikatorische Moment der so entstandenen Texte zu stark, und in der Tat: Die mystische Züge tragende Verschmelzung des Empfindungs- und Schreibgestus von Celan mit dem der russisch-jüdischen Brudergestalt Mandel'štam ging sehr weit. Durs Grünbein, der eine kundige Einleitung zu Celans Übersetzungen aus dem Russischen für das Booklet des vorliegenden Hörbuchs verfasst hat, bemerkt, dass "Celan niemals irgendwen, und schon gar nicht irgendwie übersetzt" habe: Er war immerfort auf der Suche nach komplementären Stimmen. Der Leser spürt, wie sehr es ihm darum ging, sich selber näher zu kommen im Dialog mit dem Anderen. Die fremde Zunge, das abweichende Metrum, das ganz andere lyrische Weltbild waren ihm ebenso viele Zugangswege und Türen zum eigenen Wortraum." Celans Übersetzungen "schließen das Original in die eigene Stimme ein wie ins persönliche Gebet, ohne die Integrität desselben je zu verletzten. Sie sind sein bescheidenes Echo. In ihrer Zurückhaltung bewahren sie, Zeile für Zeile, den ursprünglichen Eigensinn."

Gleichwohl gibt es auch evidente Unterschiede. Christine Ivanovic hat in ihrer wegweisenden Untersuchung zur Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren ("Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung", Tübingen 1996) darauf aufmerksam gemacht, dass seine Bezugnahme auf fremde Texte, die Integration fremder Stimmen in sein Werk, sich weniger in den Verfahren als in der auf mystische Erkenntnis zielenden Konzeption der Begegnung wesentlich von dem Gestus Mandel'štams unterscheide: "Wo es Mandel'štam um Weltkultur, um Integration und Anverwandlung der fremden Stimmen zu tun ist, wo er eine europäische russische Dichtung schaffen will, wo Glossolalie sein Gedicht bestimmt, da sucht Celan die Selbstbegegnung, Selbstfindung, Selbstbefreiung. Statt Stiftung von Kultur bei Mandel'štam, Erkenntnis von Wahrheit, Entwerfen von Wirklichkeit, Abtasten der Möglichkeit des Menschlichen, im Gedicht Celans." Während Mandel'štams Teilhabe an der gesamten europäischen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart nicht nur die Konstitution des Motivs dichterischer Inspiration bestimmt, sondern eben dieses mit Hilfe dialogisierender Verfahren als grundlegendes poetologisches Modell, als Glossolalie im Sinne einer 'Synchronie der Jahrhunderte' begründet, geht es Celans Gedicht gerade nicht um eine synchronisierende, verschmelzende Teilhabe an Tradition; es intendiert vielmehr zum einen die sprachliche Konzentration in Form von äußerster Anreicherung, Kristallisation, zum anderen eignet ihm der auf 'Erkenntnis' gerichtete Gestus eines Wirklichkeitsentwurfs, was umgekehrt für Mandel'štam aus historischen Gründen nicht denkbar war. Wo Mandel'štam von der Notwendigkeit kultureller Kontinuität überzeugt scheint, da fordert Celan den "Ausbruch aus der Kontingenz" als letzter Möglichkeit der Bewahrung eines kreatürlichen Sprechens. Celan hat das Zerbrechen von Tradition, geistiger wie sprachlicher, im Verlauf der eigenen historischen Erfahrung erlebt. Es erstaunt daher nicht, dass er gerade die für Mandel'štams "Kulturpoetik" grundlegende Konzeption in die Übertragungen nicht übernommen hat, was als wichtige Differenz zwischen beiden Autoren jedoch unbedingt wahrgenommen werden muss.

Wo Celan in den einführenden Bemerkungen zu den Übersetzungen Bloks und Mandel'štams vor allem bei letzterem auf die Singularität der Erscheinung abhebt, da sucht er den russischen Dichter Sergej Esenin in die spezifische Tradition einzugliedern, die sein Eigenes erst als Eigentliches hervortreten lässt: die Kreatürlichkeit seiner Verse. Esenin ist nach Mandel'štam der russische Dichter, dem sich Celan wohl am nachhaltigsten genähert hat. Esenins Gedichte hat Celan schon in seiner Frühzeit übersetzt, diese vermutlich 1943 entstandenen Übersetzungen sind erst Anfang der neunziger Jahre durch George Gutu publiziert worden. Celans zweite Phase der Beschäftigung mit Russischem, darauf hat Christine Ivanovic verwiesen, begann erneut mit Esenin, noch bevor sich Celan fast völlig dem Werk Mandel'štams verschrieb. Mit dem erst 1961 publizierten Band der Übertragungen Esenins präsentiert Celan - nach Blok und Mandel'štam - dann den letzten der drei russischen Dichter, deren Werke er 1963 in einer gemeinsamen Ausgabe noch einmal abschließend zusammenfasst. Anders als im Falle Mandel'štams ist die Frage nach Celans Verhältnis zu Esenin im besonderen Maße angewiesen auf die Wahrnehmung bestimmter Tendenzen der allgemeinen Esenin-Rezeption, der sich auch Celans Lektüre verschrieben hat, vor allem, weil Esenin im Unterschied zu Mandel'štam ein weitgehend anerkannter, ungleich mehr und schon zu Lebzeiten über die Grenzen Russlands hinaus rezipierter Dichter war. Esenins Begeisterung für die Revolution und die Mystifikation des russischen Bauernlebens artikuliert sich in der messianischen Hoffnung auf ein "bäuerliches Paradies". Darüber hinaus näherte er sich, auf der Suche nicht etwa nach "Ziselierung" der Sprache, sondern nach neuen Möglichkeiten des sprachkünstlerischen Ausdrucks, den ehemaligen Futuristen Šeršenevic und Mariengof an, mit denen er zusammen 1919 die literarische Gruppe der "Imaginisten" begründete. Die Orientierung an der Volksdichtung ist dabei von Esenin nicht traditionell-folkloristisch gedacht, sondern im Entdecken ihrer Strukturen als Möglichkeit einer "Revolution" der Sprache, die der gesellschaftlichen Revolution entspricht. "Vielstelligkeit" und "Präzision des Ausdrucks" - diese Worte Celans charakterisieren ihrerseits aufs genaueste Esenins sprachliche Bemühungen. Die Betonung der melancholischen Grundstimmung in der 1961 publizierten Gedichtauswahl entspricht einer inneren Gestimmtheit Celans. Sie hat Teil an der von schwermütigen Gefühlen der Sehnsucht und Trauer geprägten östlichen "Heimkehr", die Celan um 1960 emotional versucht. Ferner wird sie zum Grundstein der unmittelbar nach Abschluss der Esenin-Übersetzungen, ab Mitte 1960 einsetzenden und vor allem an dem Werk Mandel'štams orientierten Interpretation der Position des Dichters als der eines Verbannten.

Der russische Osten, die Sowjetunion, war für Celan einerseits besetzt als Raum der Deportation und des Todes, von den Nationalsozialisten, aber auch vom Terror Stalins ins Werk gesetzt. Andererseits verband sich mit 'dem Osten', mit Russischem auch die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und die Rest-Utopie eines menschenfreundlichen, freiheitlichen Sozialismus. Dies alles zusammengenommen, konnte Celan sich, wie es in diesen Jahren in mehreren Briefen geschah, "Pawel Lwowitsch Tselan/ Russkij poët in partibus nemetskich infidelium/ s'ist nur ein Jud" (etwa: russischer Dichter in den Gebieten ungläubiger Deutscher) nennen. Die Wendung Celans zur russischen Moderne, die vor allem Mandel'štam für ihn repräsentierte, erfolgte aufgrund einer komplexen Konstellation, die sich in ihrer eigentlichen Bedeutung ganz offensichtlich erst im Laufe des Jahres 1960 herausbildete. Zu ihr gehörte die akute Frage nach einem jüdischen Schreiben im Exil, mit der Nelly Sachs Celan konfrontierte ebenso wie die sich seit März 1960 zuspitzende Plagiatsaffäre; zu ihr gehörte auch die - von Celan als 'Persilschein' aufgefasste Ehrung durch die Verleihung des Büchner-Preises, die ihn andererseits zur expliziten Formulierung seiner Poetik zwang und darin die größtmögliche Annäherung an Mandel'štam manifest machte. Die tiefe Krise, die Celan 1963 erlebte, beendete nicht nur seine russischen Lektüren. Erst 1966/67 bei Abschluss der "Atemwende" versuchte Celan erneut den Zugriff auf ein breiteres Spektrum russischer Literatur. Diesem Umstand ist auch die hier zu goutierende Produktion des WDR Köln von 1967 zu verdanken, in der Paul Celan sich lesend noch einmal Esenin und Mandel'štam zuwendet. Fast programmatischen Charakter hat es wohl, wenn sich Celan bei der Rezitation von Esenins Gedicht "Kein Lied nach meinem mehr" verliest und in die Zeile "Rauft die Halme aus, die Abendröte tranken" eine "Morgenröte" hineinliest. Der Wechsel vom "Abend" zum "Morgen" unterstreicht den seit der "Niemandsrose" zu beobachtenden Paradigmenwechsel innerhalb der Poetik Celans.

Dem HörVerlag sei Dank, dass dieses einzigartige Tondokument einer breiten Hörerschaft wieder zugänglich gemacht wurde. Einziger Wehmutstropfen, das soll nicht unerwähnt bleiben, ist die fahrlässige Verzeichnung der Gedichtanfänge im beigegebenen Booklet, auch und gerade wenn man bedenkt, mit welcher Akribie Celan diese Titel wieder und wieder umgeschrieben hat. Gleichwohl schmälern derlei Mängel nicht die historische und phonetische Qualität der hier ausgewählten 26 An-Reden, denen viele aufnahmebereite Hörer zu wünschen sind.

Titelbild

Ossip Mandelstam / Sergej Jessenin: Paul Celan liest Gedichte. CD.
Der Hörverlag, München 2002.
55 min., 15,90 EUR.
ISBN-10: 389584988X

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