Die Zukunft bestimmt die Vergangenheit

Zwei Vorträge von Paul Ricœur

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Rätsel der Vergangenheit" geht davon aus, daß sich die Bedeutung der Geschichte zum einen aus der Erfahrung des Menschen ergibt und zum anderen aus dem Phänomen, als Mensch geschichtlich zu denken, d.h. die Geschichte zu denken und zu erzählen. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte keineswegs der abgeschlossene und absolute Verlauf der Vergangenheit ist, der von den Historikern in Form von bloßen Fakten dargestellt werden kann, da auch Historiker in jedem Augenblick in die Geschichte eingebunden und zur eigenen Geschichtlichkeit verurteilt sind.

Nach Ricœur besteht eine adäquate Umgangsweise mit der Geschichte nur in der dialektischen Auffassung von, wie er es nennt, "Historie" und "Gedächtnis". Die Historie hat dabei die Aufgabe, wahrheitsgetreu und kritisch die Fakten der Vergangenheit zu dokumentieren. Das Gedächtnis hingegen bewahrt (durch Erzähler, Zeugen, Spuren) die Vergangenheit, indem Gegenwart und Zukunftsentwurf zu den vergangenen Ereignissen in Beziehung gesetzt werden.

Für Ricœur spielt dabei die grammatikalische Ambivalenz der Vergangenheitsform eine wichtige Rolle: Man kann nämlich entweder sagen, dass etwas "nicht mehr ist", oder, dass es "gewesen ist". Dabei ist die Historik auf die (Gegenwarts-)Form des Nicht-mehr-seins verwiesen - (nur Spuren und Zeugen sind erhalten, das Ereignis selbst ist vergangen). Das Gedächtnis entspricht der Form des Gewesenen, dessen ehemaliges Sein nicht bestritten werden kann: "Nichts kann bewirken, daß das, was nicht mehr ist, nicht gewesen ist."

Wenn die Historie nun ihrerseits den Bezug auf die Gegenwart bzw. den Zukunftsentwurf vollzieht - und dialektisch dazu das Gedächtnis eine kritische und dokumentierende Haltung gegenüber den Traditionen einnimmt - wird ein Weg gefunden, Hermeneutik und Historik zu vereinen, und damit beiden wesentlichen Bedeutungen von Geschichte gerecht zu werden. Es ergibt sich jedoch das Problem, dass die Gewißheit über ein Ereignis nur auf der Glaubwürdigkeit (des Gedächtnisses) der Dabei-Gewesenen beruht. Das eigene Sehen wird somit, wie Ricœur sagt, von einem Sagen und Glauben abgelöst. Daraus resultiert die immer zu berücksichtigende Frage nach der Fehlbarkeit der Zeugnis-Gebenden mit der Konsequenz, dass die Wahrheit der Geschichte "immer im Prozeß des Um-Schreibens begriffen" ist und damit stets unbewiesen und anfechtbar bleibt.

Um dieses Manko auszugleichen, schlägt Ricœur vor, Erinnerungen und historische Erzählungen der Menschen bzw. der Völker untereinander auszutauschen. Allein dies gewähre einen verantwortungsvollen Umgang mit den eigenen Traditionen und ein adäquates Verständnis der Geschichte. Dabei bleibt zu beachten, dass das Gedächtnis zwar nicht über das Sein von Ereignissen zu bestimmen vermag, jedoch über deren Sinn. Im Verlauf der Zeit kann es so zur Umdeutung der vergangenen Ereignisse kommen. Ricœur versucht, das am Beispiel der Schuldfrage zu erklären: Die Aussicht auf das Verzeihen im Gegensatz zur Schmerzlichkeit des Nicht-wieder-gut-machen-Könnens hat eine grundlegende Sinnveränderung des Ereignisses selbst zur Folge. Dies läßt sich als Rückwirkung der Zukunft auf die Vergangenheit betrachten. Vergangenheit und Zukunft sind also niemals als absolut und unabhängig voneinander zu sehen, sondern sind in Form von "Protention" und "Retention" aufeinander verwiesen: Die Zukunftsaussichten ändern die Bedeutung der Vergangenheit, und dies wird wiederum zukünftiges Handeln beeinflussen.

Der zweite Vortrag mit dem Titel "Die vergangene Zeit lesen: Gedächtnis und Vergessen" beschäftigt sich noch einmal mit dieser Problematik in Bezug auf die Prozesse des Vergessens und Verzeihens. Ricœur geht zunächst der Frage nach, inwiefern das Gedächtnis eine private oder öffentliche Erfahrung ist. Für ihn konstituiert sich "Gedächtnis" wechselseitig als individuelles und kollektives Gedächtnis. Diese wechselseitige Konstitution könne durch das Zusammenleben in Gemeinschaften und mit dem damit verbundenen Austausch eigener und gemeinschaftlicher Erfahrungen gewährt werden. Dabei stellt Ricœur fest, dass das Gedächtnis die Grundlage der persönlichen und auch der kollektiven Identität bildet. Schon um des eigenen Selbst-Verständnisses willen muß es also eine Pflicht zur Erinnerung geben. Gleichzeitig stimmt Ricœur jedoch ein Lob des Vergessens an, verstanden als bewußte Auslassung von Nebensächlichkeiten bei der Dokumentierung der Geschichte, wobei der schon erwähnte Austausch von Erinnerungen unter den Menschen und Völkern sicherstellen soll, dass es zu keiner einseitigen Geschichtsschreibung kommt.

Ricœurs Vortrag mündet in eine Phänomenologie des Verzeihens, die einen wichtigen Aspekt seiner Philosophie darstellt: Die christlichen Tradition von Schuld und Vergebung endet mit der Forderung nach einem neuen Umgang mit Schuld. Vergangene Ereignisse sollen ausdrücklich erinnert werden; deren Bedeutung für den Zukunftsentwurf aber muß wandlungsfähig sein, damit das Unverzeihliche irgendwann einmal verzeihbar werden kann. "Die ungetilgte Schuld akzeptieren; akzeptieren, daß man ein zahlungsunfähiger Schuldner ist und bleibt; akzeptieren, daß es Verlust gibt." Aber: "Die Vergangenheit ist wirklich überholt: denn ihr 'Nicht-mehr-sein' bewirkt kein Leiden mehr". Was bleibt, ist laut Ricœur die Hoffnung auf Gnade.

Titelbild

Paul Ricoeur: Das Rätsel der Vergangenheit. Übersetzt von Andris Breitling und Henrik Richard Lesaar.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
160 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892443335

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch