Der Ewige Schwabe

Sibylle Lewitscharoff wandert durch Rom und kommt doch über Stuttgart nicht hinaus

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Frist ist um", könnte man mit Wagners "Fliegendem Holländer" rufen. Abermals betritt Ahasver die Bühne der Literatur, diesmal im Gewand eines deutschen Filmproduzenten, dessen letzten acht Lebenstage in Rom der neue Roman von Sibylle Lewitscharoff schildert. Abermals handelt es sich um den Ewigen Juden, den verzweifelten Sucher, den zur Ruhelosigkeit verdammten Außenseiter, der nach Erlösung lechzt. "Montgomery Cassini-Stahl" lautet der auffällige Name des in Stuttgart aufgewachsenen Protagonisten, der schon früh nach Italien auswandert. Dieser Name kommt ihm immer wieder in die Quere; wer im Ländle "Montgomery" heißt, der fällt schon dadurch aus der Reihe. Und wer in Italien "Stahl" heißt, der kann seine fatale deutsche Herkunft niemals ganz abschütteln. Wie es sein Name kundtut und wie es sich für einen Zerrissenen gehört, so schwankt Cassini-Stahl stets zwischen zwei, vielleicht auch mehr Polen hin und her. Eine reichlich verkorkste Kindheit in Stuttgart; der Vater, ein Fotograf, macht sich früh auf und davon und hinterlässt seinem Sohn nur den anstößigen Namen sowie eine Leidenschaft für Bilder; die Mutter eine echte Stahl, protestantisch, pietistisch, schwäbisch eben - eine Geschichte für sich; und vor allem der ältere Bruder, Robert, seit Geburt körperbehindert und auf den Rollstuhl angewiesen, in dem er von Montgomery vermeintlich ins Schwimmbecken gestoßen wurde und ertrank.

Die kaum nacherzählbare Handlung ist von einem Rahmen umgeben, in dem der Ich-Erzähler seinen alten Schulkameraden Cassini zufällig in Rom trifft, die Vergangenheit wieder aufleben lässt und sich mit ihm für die kommende Woche verabredet. Der bekannte Filmproduzent, dessen letztes Projekt die Verfilmung des Lebens von Joseph Süß Oppenheimer war, stirbt, bevor es zu einem zweiten Treffen kommen kann. Der Erzähler beschließt daraufhin, sich das Leben seines ihm fremd gebliebenen Freundes genauer anzusehen. Er fragt Leute aus, die mit ihm Kontakt hatten, Angestellte, Freunde, zahlreiche Untergebene, die vor allem die Aufgabe zu haben scheinen, das Leben von ihm fernzuhalten. Er hört zu, wird zum "Ordnungshüter dieses Lebens" - und fängt an zu erzählen.

Dieses Erzählen kommt zu Beginn eher gemächlich daher. Wir erfahren die intimsten und banalsten Details aus dem Leben Cassini-Stahls: Welches von seinen zwei Waschbecken er zum Rasieren, welches zum Zähneputzen benutzt, dass er über Nacht immer einen Fensterflügel offen hielt, um seinen Gerüchen keine Entfaltung zu erlauben und so weiter, als käme uns der Mensch dadurch auch nur ein Schrittchen näher vor die Augen. Wollten wir das wirklich wissen? Dass der schwäbisch-behäbige Duktus des Beginns eine solche Frage nicht allzu laut werden lässt, dafür sorgt die oft außergewöhnliche, bisweilen bizarre, nur selten aufdringliche Sprache des Romans. "Hafermehlfarbene Wolken" schweben durch ein Zimmer, Träume sind "huflattichartig", ein Gesicht "springt wie eine Kapsel zu". Keine Floskel erhält Eingang, kein Bild bleibt grau dank des Stilempfindens, das Lewitscharoff auch hier wieder beweist.

Gegen Mitte des Romans nimmt das Tempo zu. Cassini-Stahl muss den "trinkfreudigen" Hauptdarsteller seines Films ersetzen, während dieser durch die Bars von Rom zieht. Weshalb das Schicksal des jüdischen Bankiers Süß Oppenheimer aus dem 18. Jahrhundert den Filmproduzenten Cassini-Stahl so interessiert, wird nicht ganz deutlich. Nicht einmal ein expliziter Gegenentwurf zum NS-Propagandafilm "Jud Süß" soll es werden. Aber Oppenheimer, der von Antisemiten des Hochverrats beschuldigt und schließlich gehängt wurde, scheint in seiner Ambivalenz so etwas wie eine schemenhafte Parallelfigur für den Filmproduzenten zu sein: beide im Neckartal aufgewachsen, beide erfolgreiche Aufsteiger, beide Außenseiter.

Und schließlich ist da noch "das holländische Mädchen", in das sich Cassini-Stahl verliebt, obwohl sich beide kaum kennen. Der verschlossene und distanzierte Protagonist mit dem empfindlichen Magen sucht in Marie, deren Name nur an zwei Stellen genannt wird, nichts weniger als die Erlösung durch das Weib. Welch passender Name für eine Erlöserin!

Wovon er erlöst werden will - er weiß es wohl selber nicht. Von der Verdammung zur Ruhelosigkeit? "Damit alle andern schlafen können", heißt es über ihn, "mußt du ab jetzt immerzu aufbleiben und wachsam sein." Seine Erinnerungen an die Stuttgarter Kindheit, das unaufhörliche Schwanken seiner Stimmung zwischen italienischem Frohsinn und schwäbischer Selbstergründung lassen es manchmal deutlicher hervortreten: Es ist die Erlösung vom Schwabentum in sich, die ihn schon nach Rom getrieben hatte, vor fast vierzig Jahren. "Einst hatte Rom auf einen Hieb seinen Stuttgarter Panzer zerhauen. Jetzt berührte es ihn zum zweiten Mal." Das Ewig Schwäbische zieht ihn hinab; Marie soll für die Gegenrichtung sorgen.

"Ach", könnte man hier wiederum mit Wagner seufzen, "wenn Erlösung mir zu hoffen bliebe, - Allewiger, durch diese sei's!" Aber Lewitscharoff ist nicht Wagner, Gott sei dank, mag man sagen, da fällt doch alles ein wenig bescheidener aus, ironisch gebrochener, wohltuend doppelsinniger, weniger aufgeladen. Und die Autorin unterscheidet sich vom Opernkomponisten nicht zuletzt durch ihre unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeit. Doch versteht sich das nicht von selbst? Darf man so etwas Selbstverständliches heute noch sagen? Man darf es vielleicht, wenn es um einen Text geht, der sich die "männliche" Perspektive derart geschickt und vollkommen zu eigen macht, gleichzeitig aber derart verschlagen mit dieser Perspektive spielt, sie hinterrücks zerstört und dann lustvoll durch die Ruinen wandert.

Lewitscharoff wäre nicht die, die wir aus ihren vorhergehenden Romanen kennen, würde sie dem alten Thema nicht Neues, Unerhörtes abverlangen. Die letzten Stunden des Montgomery Cassini-Stahl erzählt sie in einer zum Teil an Joyce' "Ulysses" erinnernden Phantasmagorie. Mit einer ans Traumatische reichenden Intensität fallen die Gedanken und Bilder auf Cassinis letztem Gang vor diesem und vor dem erstaunten Leser nieder. Wie Büchners Lenz durchs Gebirg' zieht hier der Ewige Schwabe durch die Ewige Stadt. Er, dessen konfus religiöse Natur in ihm den Wunsch aufsteigen lässt, einem altgewordenen Punkmädchen vor einem Brunnen die Füße zu waschen, empfindet, mit Handke zu sprechen, ein "auf die Augenlider drückendes Bedürfnis nach Heil". Schließlich ereilt ihn das Ende. Herzversagen. Hat er seine letzte Ruhe gefunden? Die Autorin sagt es uns nicht, auch der Erzähler schweigt sich in seinem Epilog darüber aus. Was bleibt? Vielleicht am Ende doch nur wieder Wagners Holländer: "Sagt Lebewohl auf Ewigkeit dem Lande! / Fort auf das Meer treibt's mich aufs neue!"

Titelbild

Sibylle Lewitscharoff: Montgomery. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
347 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421056803

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