Der Philosoph des Leibes

Gerhard Danzer schreibt Merleau-Ponty ein in die Geschichte des somatischen Denkens

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn" - das Buch hätte einen spannenderen Untertitel verdient. Jedenfalls sind die rasanten Seiten seines Beginns, die Merleau-Pontys Biographie in für den deutschsprachigen Raum bislang ungekannter Intimität und Offenheit präsentieren, Ausdruck einer anderen Art, philosophische Lebenswege zu erzählen. (Auch wenn einige Passagen fast wörtlich aus der Simone de Beauvoir-Biographie von Francis und Gontier übernommen wurden.) Merleau-Ponty ist vielleicht der letzte (vor Foucault), für den der biographische Stil hilfreich für eine Annäherung ist. Seine Zeit des politischen Engagements neben Sartre und de Beauvoir in der ideologischen Großkampfepoche der kalten Nachkriegsjahre sagt mehr aus, als man gemeinhin von Merleau-Ponty vermutet: Die saubere Trennung von Politik und Philosophie, durch welche man ihn von seinen Weggefährten bei der Zeitschrift "Les Temps Modernes" unterscheiden zu können glaubte, ist hinfällig. Was Merleau-Ponty in Ersetzung von Hegels Synthese nach dem Vorbild von Heideggers 'Zweideutigkeit' und im Vorgriff auf Derridas 'différance'-Gedanken 'Ambiguität' nennt, ist Schema seines Denkens: Realpolitik und Ideenreflexion sind ebenso zwiespältig wie Gulag und Marxscher Humanismus, wie behavioristische und intellektualistische Welterklärung. - Dazwischen liegt für Merleau-Ponty (so lernte er es jedenfalls von dem katholischen Existentialisten Gabriel Marcel) stets ein Drittes, dass sich nicht 'aufheben' lässt.

Für Danzer ist es der 'Leib'. Ungeachtet der Tatsache, dass die gesamte Rezeption der 80er Jahre in Merleau-Ponty nichts anderes sah als den Apostel des Leibes, ist der Autor der neuen Werkbiographie entsprechend vorbelastet: Der zweifach promovierte Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Charité in Berlin hat bereits eine Zahl an Monographien zur Psychosomatik und Geschichte der Tiefenpsychologie (so über Georg Groddeck) verfasst. Die Ambiguität seiner Titel - medizinisch und philosophisch - prädestiniert in geradezu für die Beschäftigung mit Merleau-Ponty. Und so zeigt er in dem wunderbar ausgestatteten und obendrein erschwinglichen Buch auf knapp 300 Seiten, dass Merleau-Ponty anhand seines anticartesianischen Leibbegriffs nicht nur nahezu die gesamte Tradition der Leibphilosophie vor ihm implizit oder explizit aufnimmt und deren kritisches Anliegen verdichtet, sondern sich von hier aus durch eine sich vom strukturalistischen Irrweg fernhaltenden Sprachauffassung als Ausdruckskunst des Alltags zur Neubestimmung des politischen Wesens aufmacht. Was man schon immer von der Phänomenologie wissen wollte, erfährt man hier auf wenigen, aber genügend Seiten. Wie denn die Psychologie gestrickt war, als Merleau-Ponty gegen sie wetterte, auch das steht in Danzers Buch. Eine kurze Geschichte des Leibes von der Antike bis heute - alles da.

Leider bleibt das zentrale Kapitel zur eigentlichen Leibphilosophie zu nahe am Aufbau von Merleau-Pontys zweiter Promotionsthese ("Phänomenologie der Wahrnehmung"); was in diesem Falle ein wenig hilfreiches Vorgehen ist, da gerade die Systematisierung Merleau-Pontys Schwäche war. Zu zeigen wäre dagegen, wie 'Verhalten', 'Leib', 'Raum', 'Zeit', 'Anderer' und 'Freiheit' (und ob sie tatsächlich) zusammenspielen. Dass Merleau-Ponty stets alle Grundthemen der Philosophie evoziert, bringt dem (kritischen) Leser wenig. In den entscheidenden Kapiteln werden die Unterüberschriften mit "und" sowie "als" gebildet, die aus der philosophischen Trickkiste zumeist dann geholt werden, wenn keine wirkliche Verbindung zwischen zwei veranschlagten Komponenten besteht.

Negativ fällt ferner ins Gewicht, dass Danzer wenig daran gelegen ist, die tatsächliche Rezeption darzustellen, wie sie nachvollziehbar in Merleau-Pontys Werk stattfindet. (Gleiches gilt für Merleau-Pontys Wirkungsgeschichte.) Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Mitschriften der Vorlesungen am Collège de France aus den späten 50er Jahren über den Begriff der Natur (seit 1968 veröffentlicht, 2000 vollständig in deutscher Übersetzung erschienen), hätte die Auswahl der Einflüsse (über den von Danzer mehrfach bemühten Schelling hinaus) steuern können. Gänzlich unberücksichtigt ist Merleau-Pontys vielleicht wichtigster Denkschritt in Sachen Leibphilosophie, wenn er im Nachcartesianer Main de Biran den ersten Leibphänomenologen erkennt, der die Selbstgewissheit vom Cogito auf das Somatische ausdehnte: 'Ich leibe also bin ich.' Statt dessen beschreibt Danzer die Großwetterlage, sowohl im Leib- als auch im Sprach- und schließlich im Politik-Teil seiner Arbeit. Wittgenstein beispielsweise wird hier ein eigener Abschnitt gewidmet, obwohl er für Merleau-Ponty keine Rolle spielt. Statt dessen sucht man Bezüge auf die Analytische Philosophie - wie vor allem Ryle, mit dem sich Merleau-Ponty persönlich auseinandersetzt - vergebens.

Aber auch auf Danzers Spezialgebiet, der Psychologie, besteht das Ungleichgewicht: Merleau-Pontys lebenslange Auseinandersetzung mit Piaget oder seine Kontroverse zum Freund Lacan erscheint randständig. Der hierbei für Merleau-Ponty überaus bedeutsame Einfluss des zu Unrecht vergessenen Psychologen Henri Wallon, der den Begriff des 'virtuellen Körpers' aufbrachte, fällt unter den Tisch. Merleau-Pontys Zentralkategorie des 'Fleisches' wird im Fahrwasser von Levinas mit dem reformierten Leibbegriff gleichgesetzt. Es ist jedoch eine Tücke der Metapher, durch welche die Bezeichnung den Begriff verdeckt: 'Fleisch' ist die sinnlich erfahrbare Ambiguität von Raum und Körper. Auch dass Merleau-Ponty den Nicht-Sinn ebenso wie den Sinn 'suchte' bzw. respektierte, wird mit der Zuspitzung auf eine mit ihm anzuvisierende politische Wohlordnung verdeckt. - Anderes wiederum hatte die Merleau-Ponty-Forschung vergessen: So berücksichtigt Danzer Merleau-Pontys Affinität zur Massentheorie.

Das Buch verfolgt den Anspruch der höchsten Qualifikationsarbeit (und legt eine unbekümmerte Ausdauer an den Tag, die man vielen einsamen Schreibern wünscht), jedoch ohne über einen Apparat zu verfügen. Allemal die gegebenen Detailinformationen auswendig zu können, würde Jahre eines geisteswissenschaftlichen Studiums sparen: Kein Allgemeinplatz, aber auch keine wichtige Nuance des europäischen Denkens wird ausgelassen. Dabei ist der Text nie belehrend. Eher nebenbei wird, wie im Gespräch, gesagt, was man hätte wissen können.

Danzer schreibt sein Buch über die (politische) Lebenskunst (oder gar 'das Leben'), das sich erfrischend vom konjunkturellen Nachhall der fettlebigen bundesrepublikanischen Jahre absetzt: Es ist eine fundierte Ermutigung zum Denken des Ganzen - das, was Philosophie seit jeher war und was unser Körper(ge)wissen immer schon von seiner kleinen Vernunft, die es nach Nietzsche trug, verlangte. Leider darf der Autor nicht selbst sprechen, sondern muss es mit Merleau-Ponty tun, was nach Danzers eigenen Angaben schon schwierig genug ist. Dass Verlage auf Nummer sicher gehen, ist ihnen zur Zeit nicht zu verdenken; dass die philosophische Ausbildung im vorauseilenden Gehorsam das Selbstdenken zur aussterbenden Gattung werden lässt, muss sich der akademische Schutzraum als Vorwurf gefallen lassen. Ein Zeichen der Hoffnung ist es, dass der Arzt Danzer im laufenden Sommersemester an der Humboldt-Universität seine "Philosophie der Alltäglichkeit" unterrichten darf. Philosophische Institute, die heute noch das Bordercrossing praktizieren, müssen erst einmal gefunden werden.

Spätestens mit Safranskis Biographien lebte eine philosophische Erzählkultur (wieder) auf, welche die Zeit zwischen Bahnhof und Bibliothek nicht nur versüßt, sondern zum wertvollsten Teil der Lebenszeit macht. Ein Geschenk, das man sich gerne macht. Und vielleicht hat Danzer ja darin Recht, Merleau-Ponty einfach zur Matrix unserer Moderne zu erheben, weil er es mehr war denn Heidegger, Adorno oder ein anderer.

Titelbild

Gerhard Danzer: Merleau-Ponty. Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003.
294 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-10: 3931659437

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