Das Private ist politisch

Ulla Wischermann untersucht die Netzwerke der Ersten Frauenbewegung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die alte feministische Erkenntnis, der zufolge das Private politisch ist, hat Ulla Wischermann auf ganz neue Weise fruchtbar gemacht und einen Forschungsansatz entwickelt, der über gängige diskursive Modelle von Öffentlichkeit hinausweist. Er hebt hervor, dass emotionale und erfahrungsbezogene Aspekte ebenso wie miteinander konkurrierende Öffentlichkeiten wesentliche Momente der Erzeugung von Öffentlichkeit und Publizität sind. Die Erkenntnis, das Öffentliches und Privates eng miteinander verflochten sind, machte sich bereits Virginia Woolf in ihrem feministischen Essay "Three Guineas" (1938) am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zunutze. Nun betont Wischermanns "erweitertes Verständnis" von Öffentlichkeit die private Seite von Politik und hebt die Relevanz persönlicher Bindungen und Verbindungen in Bewegungskulturen hervor. Soziale Bewegungen, so die Autorin, bilden Subkulturen, in denen "Netze" entstehen, "die zu einem wesentlichen Teil von den persönlichen Beziehungen der Akteur/innen getragen werden".

In ihrer Habilitationsschrift erprobt die Soziologin ihren innovativen Ansatz, der Öffentlichkeit und Privatheit als "Eckpunkte eines Kontinuums" fasst, am Beispiel der Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Frauenbewegung um 1900. Hierzu unterscheidet sie drei Ebenen. Zunächst die "Bewegungskultur", worunter die Autorin die persönliche Beziehungen der Akteurinnen untereinander - also Bekanntschaften, Verwandtschaften sowie Freund- und Feindschaften fasst, sodann die "Bewegungsöffentlichkeit", eine "Binnenöffentlichkeit", die durch autonome Kommunikationsstrukturen, Organisations- und Versammlungsöffentlichkeit sowie bewegungseigene Medien gebildet wird, und schließlich die breite Öffentlichkeit, auf die mit Hilfe der Massenmedien eingewirkt werden und deren Sympathie gewonnen werden soll.

Wischermanns mikrosoziologische Studie zeichnet sich jedoch nicht nur durch ihren wegweisenden Forschungsansatz aus, sondern auch durch die umfangreiche Materialbasis zeitgenössischer Quellen. So wertet die Autorin zahlreiche Autobiographien, Briefwechsel und Nachlässe aus, die das Quellenmaterial zur Erhellung des 'privaten Eckpunkts' bilden. Die Öffentlichkeitsarbeit der Ersten Frauenbewegung wird anhand einer Vollerhebung der Jahrgänge 1894-1914 der drei vielleicht wichtigsten Bewegungszeitschriften untersucht, die jeweils den folgenden Fraktionen zuzuordnen sind: dem von Marie Stritt herausgegebenen bürgerlich-gemäßigtem "Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine", Minna Cauers radikaler Zeitschrift "Die Frauenbewegung" und dem sozialistischen Periodikum "Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen". Thematisch konzentriert Wischermann sich auf eine Untersuchung der, wie sie mit einigem Recht sagt, "wichtigste[n] Themen der Zeit": Der Sittlichkeitsdebatten und der mit ihr verknüpften Frage der Sexualreform sowie als zweites dem Frauenstimmrecht. Die Autorin konzentriert sich allerdings ausschließlich darauf, bestimmte Themenkonjunkturen herauszuarbeiten und analoge Mobilisierungsschübe aufzuzeigen. Hingegen verzichtet sie darauf, die kontroverse Berichterstattung der drei konkurrierenden Frauenzeitschriften und deren Positionen näher vorzustellen oder sie gar zu interpretieren. Das hätte zwar sicherlich zu interessanten Ergebnissen führen können, ist nur leider nicht das Thema der vorliegenden Arbeit. Immerhin macht Wischermanns methodische Verknüpfung des Privaten mit dem Politischen aber deutlich, wie politisch das Private ist; wie etwa Freundschaften oder auch persönliche Aversionen die Politik der Akteurinnen der Ersten Frauenbewegung beeinflussten - und vice versa.

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Ulla Wischermann: Frauenbewegung und Öffentlichkeit um 1900. Netzwerke-Gegenöffentlichkeit-Protestinszenierung.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2003.
318 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3897411210

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