Zwischen Akkulturation und Zionismus
Gerson Sterns "Auf drei Dingen steht die Welt" als Beitrag zum innerjüdischen Diskurs
Von Jürgen Egyptien
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Rahmen einer Ausgabe der Werke des deutsch-jüdischen Erzählers Gerson Stern (1874-1956) ist in diesem Jahr als zweiter Band die Erzählung "Auf drei Dingen steht die Welt" erschienen. Sie ist nach Sterns erfolgreichem Debütroman "Weg ohne Ende" von 1934 sein zweites Prosawerk, das der Gattung nach ebenfalls eher als Roman gelten kann. Die nun vorliegende Ausgabe ist die erste in Buchform, da "Auf drei Dingen steht die Welt" lediglich von März bis August 1935 in zweiunddreißig Fortsetzungen in der zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung "Jüdische Rundschau" gedruckt wurde. Die beabsichtigte selbstständige Publikation bei Erich Reiss kam wohl der schwieriger werdenden Lage jüdischer Verlage halber nicht mehr zustande.
"Auf drei Dingen steht die Welt" kann umso mehr Anspruch auf die Zugehörigkeit zur Gattung Roman erheben, als man den Text ansatzweise als einen jüdischen Bildungsroman lesen könnte. Es geht um die Geschichte der Hedda Bessinger, die sich durch die intensive Beschäftigung mit ihrer jüdischen Identität aus Elternhaus und kleinstädtischem Leben löst und am Ende eine selbstständige Existenz als Krankenschwester in Berlin führt. Dort trifft sie einen Jugendfreund, mit dem sie sich verloben will. In dem ersten von einundzwanzig Kapiteln wird Hedda Bessinger als älteste Tochter eines jüdischen Warenhausbesitzers geboren, eines typischen Repräsentanten jener Vätergeneration, die die Aufgabe der jüdischen Lebensführung mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der äußerlichen Integration in die bürgerliche Gesellschaft verbanden. Arnold Bessingers Bibel ist Ludwig Büchners "Kraft und Stoff", der Klassiker des Materialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Gründung von Bessingers Modegeschäft fällt ins Jahr 1893, ein steiler Aufstieg folgt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er vollzieht sich in jenem Treibhausklima, dessen trügerische Sekurität die Juden von der gelungenen Akkulturation an eine stetig zu mehr Vernunft und Humanität fortschreitende Gesellschaft träumen lässt, während die Sumpfblüte des Rassenantisemitismus sich bereits epidemisch ausbreitet.
Aber die Welt der Gojim kommt bei Stern kaum in den Blick, der Antisemitismus wirkt sich nur unausgesprochen auf seinen Roman aus. Er dürfte in seiner staatlichen Erscheinungsform seit 1933 das Motiv für Sterns Anliegen bilden, mit seinem Buch die von außen oktroyierte Frage nach der jüdischen Identität aufzugreifen und einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen. Jedenfalls lässt er das vornehmlich jüdische Personal ausgiebig die verschiedenen Positionen des innerjüdischen Diskurses darlegen: vom unbedingten Bekenntnis zur deutschen Kultur und Nation bis zur zionistischen Propaganda. Dabei brechen sich all diese Positionen in der Perspektive Heddas, die weniger nach den politischen Implikationen als vielmehr nach der Haltung zum Judentum als Religion fragt. Als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner ergibt sich der Bezug auf eine Stelle in den alttestamentarischen "Sprüchen der Väter", wo der Rabbi Simon Wahrheit, Recht und Frieden als die drei Stützen der Welt bezeichnet. Jede der vorgestellten Positionen reklamiert für sich die richtige Auslegung dieser Grundorientierung für das jüdische Leben.
Auch wenn über dieses Thema und die damit verbundene Gottesvorstellung und Glaubenspraxis viel gesprochen und gestritten wird, muss man doch konstatieren, dass die einzelnen Positionen recht diffus und gelegentlich austauschbar erscheinen. Vielleicht trägt zu diesem Eindruck von Indifferenz auch der Umstand bei, dass Sterns Figuren jede Plastizität fehlt. Hier wirkt sich wohl die Intention aus, die auftretenden Personen im Sinne eines Thesenromans zu Repräsentanten von Ideen zu machen und einen Klärungsprozess unter den jüdischen Lesern zu befördern. Das geht aber sehr zu Lasten der Lebendigkeit. Es ist daher von einer geradezu makabren Ironie, wenn just in der Szene, in der Stern die Individuierung seiner Protagonistin am ehesten gelingt, die Regel der Wahrscheinlichkeit auf groteske Weise außer Kraft gesetzt wird. Es handelt sich darum, dass Hedda stundenlang im Regen vor dem Haus ausharrt, in dem sich ihr wichtigster (Gesprächs-)Partner mit einer anderen jungen Frau vergnügt und dieser, als er sie beim Aufbruch entdeckt und mit sich nimmt, mit weitschweifigen Betrachtungen traktiert, statt das Mädel erstmal abzutrocknen. Das passt wenig zu einem der Literatur der Neuen Sachlichkeit zuzuordnenden Roman.
Stilistisch zeichnet er sich durch den vorzugsweisen Gebrauch einfacher Hauptsätze und einen hohen Anteil an wörtlicher Rede aus. Auch darin verfährt Stern nicht immer überzeugend. So klingt es recht merkwürdig, wenn ein Zionist davon spricht, die Vernunft zum Papst zu erheben. Sprachlich unterlaufen Stern manche Schnitzer. So sind mehrfach Personen erschreckt, wo sie erschrocken sein müssten und statt zugänglich heißt es zugängig. Sterns "Auf drei Dingen steht die Welt", das muss man klar sagen, besitzt eher dokumentarischen als literarischen Wert. Es ist ein typischer Feuilletontext, und als Roman hatte er unter dem Strich den ihm angemessenen Ort bereits gefunden.