Heuer, Huren und Handel
Caroline Hanken über ein Seefahrerleben um 1700
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Privatsphäre an Bord hatte die Maße 100 x 40 x 40 cm. Jedenfalls, wenn man mit einem Schiff der Vereinigten Ostindien Compagnie (VOC) fuhr, denn alles Eigentum hatte in die Standard-Seekiste zu passen. Das Schlafen aber, das Arbeiten, das Essen, das Erbrechen, das Spielen, das Scheißen teilte man mit den anderen Besatzungsmitgliedern in der eigentümlichen, ganz auf sich selbst gestellten Welt auf See.
Es fehlt nicht an Romanen, Autobiografien und Sachbüchern, die das Leben der Seeleute schildern. Gerade für die Zeit um 1700, als Spanier und Portugiesen, Holländer und Engländer im Fernhandel mit Schiffen Reichtümer ansammelten.
Was Caroline Hankens Buch "Sebalds Reisen" von ihnen unterscheidet, ist der Versuch der Ethnologin, ihre Wissenschaft und die Fiktion zu vereinen. Es geht ihr dabei um nichts weniger, als "Die ferne Welt der Seefahrer" - so der Untertitel - wissenschaftlich genau, sinnlich evident und menschlich anrührend zu beschreiben.
Sie denkt sich als Helden Sebald Simonsz aus, einen Dreizehnjährigen aus Amsterdam, der durch den Tod des Vaters und die Armut seiner Familie gezwungen ist, im Jahre 1697 einen Zehnjahresvertrag bei der VOC abzuschließen. Kurze Zeit später verlässt er als Schiffsjunge auf der "Heemland" Amsterdam mit Kurs auf Batavia. Hanken konfrontiert mit diesem einfachen Trick den Leser zur gleichen Zeit wie Sebald mit all dem Fremden, was sie mit Recht die "Seefahrerkultur" nennt. Denn mit zunehmender Fahrtlänge entwickeln sich die Verhaltensweisen und auch der Menschenschlag an Land und auf See auseinander. Eine eigene Sprache entsteht, eigene Bräuche, eigene Kleidung und eigene Lebenswege. Wer Jahre unterwegs ist, kommt als ein anderer wieder.
Zuerst schildert Hanken sehr genau die schwierige Zeit der Akklimatisierung an Bord, das Leiden Sebalds unter rohen Scherzen und Seekrankheit. Sie verfolgt den Weg an der Küste Afrikas entlang, beschreibt Stürme und Flauten, den Ausbesserungshalt im Hafen von Kapstadt und schließlich die Ankunft in Batavia. Doch mit der Heimreise nach Amsterdam und dem fehlgeschlagenen Versuch Sebalds, dort wieder Fuß zu fassen, nimmt sie größere Lebensabschnitte ins Auge. Der inzwischen erwachsene Sebald fährt erneut zur See, doch er gerät in die Hand von Bukanieren, schließt sich ihnen an, erleidet mit ihnen Schiffbruch und kann sich nur mit Mühe retten. Praktisch mittellos kommt er über London wieder in seine Heimatstadt, wo seine Braut inzwischen von einem anderen schwanger ist.
Von den drei Zielen, die sich Hanken gesteckt hat, erfüllt sie am besten das der wissenschaftlichen Genauigkeit des dargebotenen Materials, doch auch die Sinnlichkeit und das Menschliche verfehlt sie nicht. Lang ist die Liste ihrer vornehmlich niederländischen Quellenwerke, und reichlich sind die Zitate daraus. Beispielsweise der Ratschlag an einen Kapitän: "Nach einem Sturm, wenn die armen Männer durchnässt sind und manche keinen trockenen Faden mehr am Leib haben und vor Kälte zittern, wird etwas Wein oder Aquavit viel besser für ihre Gesundheit sein als ein Bierchen oder kaltes Wasser, sogar wenn es gesüßt ist." Mit so etwas erreicht sie mehr, als nur Zeitkolorit zu verbreiten. Wirkt es auch manchmal mechanisch, wie sie die einzelnen Punkte des Seelebens abhandelt, indem sie Sebald in entsprechende Situationen geraten lässt, um dann zu erläutern, was es hieß, in eine Flaute zu geraten oder von Piraten angegriffen zu werden, so hat ihr lakonischer Stil, der nur selten ins Gefühlige abfällt, doch stets genügend Fahrt, um über solche Untiefen hinweg zu schrammen.
Das gelungenste an Hankens Buch ist seine Informationsfülle und deren - im besten Sinne - pädagogische Darbietung, die durch ein Glossar, ein Literaturverzeichnis und zahlreiche, teils leider etwas flaue Abbildungen unterstützt wird. So enthüllt Hanken mit Sebald Simonsz Laufbahn peu à peu einen ganzen Kosmos der (niederländischen) Seefahrtskultur, von Heuer und Huren, von Masten und Maaten, von Kielholen und Kuriositätenkabinett, bis er deutlich vor Augen steht. Das Buch kann deshalb schon Jugendlichen in die Hand gegeben werden, wendet es sich auch eigentlich an erfahrenere Leser.