Grundlegendes über den chinesischen Staat
Das China-Handbuch des Hamburger Instituts für Asienkunde
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn nationale Minderheiten gut 100 Millionen Menschen in einem Staat umfassen, weiß man, es ist von China die Rede, denn in vergleichbar volkreichen Ländern wie Indien oder Indonesien gibt es keine durch die Sprache klar definierte Mehrheit. Neben ca. 1,2 Mrd. Chinesen, die das offzielle Hanyu sprechen - dreimal so viel wie Englisch-Muttersprachler - gibt es 8,4 %, die mehr als 80 weitere Sprachen verwenden. Außer dem chinesischen werden 31 verschiedene Schriftsysteme im offiziellen Unterricht gelehrt.
Undurchschaubar wie die Menge der Sprachen und Schriften scheint für viele eines der größten Länder der Erde, das mit zunehmender Wirtschaftskraft als Markt und als Rivale eine entscheidende Rolle für die westlichen Industrienationen spielt. Die erfolgreiche Bewerbung Pekings um die Olympischen Spiele 2008 zeigt, wie wichtig den Offiziellen der Kommunistischen Partei Chinas eine genau kontrollierte Politik von Öffnung und Austausch ist.
Die Art, wie mit dem Lungenerreger SARS umgegangen wurde, beweist andererseits, dass diese allerorts geforderte Kontrolle zur Vertuschung animieren oder in extreme Repression umschlagen kann. Die Weltöffentlichkeit und die Sachzwänge der Wirtschaft haben diesmal zwar recht rasch ein Umdenken der Führung erzwungen und Verantwortliche zum Rücktritt gezwungen, doch in den meisten Bereichen herrscht die Führung weiterhin autokratisch.
Weil China darüber hinaus eine der Kulturregionen war und ist, deren Einfluss kaum überschätzt werden kann, besteht ein dringendes Informationsbedürfnis, das mit dem gerade erschienenen "Großen China-Lexikon" adäquat befriedigt werden kann.
Zwar ist das Stichwort "SARS" natürlich nicht zu finden, dafür ist ein Buch zu schwerfällig, doch gerade die Bedächtigkeit macht für das Werk einen Vorteil aus, denn seine Informationen über China sind fundiert und gesichert. Am Institut für Asienkunde Hamburg entstand unter der Leitung von Brunhild Staiger, Stefan Friedrich und Hans-Wilm Schütte ein tausendseitiges Werk, das kaum einen Wunsch offen lässt. In 441, meist ausführlichen Artikel von 261 Experten des In- und Auslandes findet der Interessierte Grundlegendes über den chinesischen Staat, seine Politik, Wirtschaft, Kultur, Geographie, wobei ein Schwerpunkt auf der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit liegt. Über das Kernland hinaus informiert das Buch auch über eigene Regionen wie Taiwan und Hongkong oder über die Bedeutung und Charakteristika chinesischer Bevölkerungsteile im Ausland. So leben allein in den USA etwa 1,6 Millionen Menschen chinesischer Herkunft. Dieser weite Blickwinkel macht einen der Vorzüge des "China-Lexikons" aus.
Ein anderer ist die Verwendbarkeit für Laien wie für Fachleute. Mehrere Register, zahlreiche Statistiken, Karten, Schaubilder und angemessen ausführliche Literaturhinweise erschließen, illustrieren und vertiefen das Buch, Querverweise verknüpfen die Artikel, und die im Vorwort versprochene "Lesbarkeit" kann nur bestätigt werden, denn leicht vertieft man sich in Artikel von "Afrika" über "Hightechindustrie" und "Tibet" bis "Zweiter Weltkrieg". Sehr verwundert allerdings die merkwürdig konsequente Vermeidung der Wörter und Stichworte "Genozid" oder "Völkermord", die zumindest im Rahmen der Tibetpolitik, im Zusammenhang mit den japanischen Massenmorden in der Mandschurei und in Artikeln wie "Kulturrevolution" unvermeidbar sind. Die Völkermord-Aktionen (Vernichtung durch Arbeit, Politzide, Massenhinrichtungen) der KP Chinas, denen nach Gunnar Heinsohns "Lexikon der Völkermorde" über 35 Millionen Menschen zum Opfer fielen, hätten ebenso deutlich namhaft gemacht werden müssen, auch wenn einzelne Artikel wie "Menschrechte" oder "Strafrecht" oder "Strafvollzug" mit wünschenswerter Klarheit auf eine hoch komplizierte Materie hinweisen; liegen doch schon der chinesischen Sichtweise traditionell wie politisch vollkommen andere Überzeugungen zugrunde.
Doch derartige Lücken, kleine Fehler oder diskutierbare Gewichtungen kann ein solches Mammutwerk fast naturgemäß nicht vermeiden. Der Bewunderung für die Fülle und Verlässlichkeit des "China-Lexikons" und dem unerhört hohen Gebrauchswert des Handbuchs tut das allerdings keinen Abbruch.