Freud war ein Trottel

Ines Reiter und Diana Voigt erzählen die Geschichte der Sidonie C.

Von Stefan SchankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahr 1919 kam die neunzehnjährige Tochter eines Wiener Industriellen zu Sigmund Freud in die Analyse. Sie wurde von ihrem Vater gedrängt, den berühmten Professor zu konsultieren. Leidensdruck verspürte sie nicht. Freud war davon nicht begeistert, fehlte so doch eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Analyse, aber der Vater des Mädchens entlohnte ihn in Devisen, und in den Krisenjahren der Nachkriegszeit konnte Freud eine solche Patientin nicht ablehnen. Davon abgesehen schien der Fall auch interessant, verlangte der Vater verlangte doch eine Behandlung, weil seine Tochter sich sterblich in eine Frau verliebt hatte, noch dazu in eine, für die der Sprachgebrauch der moralischen Mehrheit der Zeit als schonendste Bezeichnung das Wort "Kokotte" bereit hielt. Freuds Erkenntnisse aus den Analysestunden im Frühjahr und Sommer 1919 gingen als Thesen in seinen 1920 veröffentlichten Aufsatz "Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität" ein.

Ines Rieder und Diana Voigt machen es sich zur Aufgabe, die Lebensgeschichte von Freuds Patientin zu erzählen. Deren Identität war lange Zeit ein Geheimnis, und dieses Geheimnis wird auch von den beiden Autorinnen letzten Endes nicht gelüftet: Der Name, den ihre Hauptperson trägt: Sidonie Csillag, ist ein Pseudonym. Ein Leben wie das der Sidonie Csillag zu erzählen, hätte nicht den Vorwand des 'Sensationsfundes für alle Freud-Interessierten' (Klappentext) gebraucht, zumal die Freud-Episode im Buch die beiläufig geschildert wird. Die Csillag starb, fast hundertjährig, 1999 und hat in den neunziger Jahren den Autorinnen ihr Leben erzählt, in dem sie Monarchie, Diktatur, zwei Weltkriege, Emigration, soziale Umbrüche und den völligen Verlust des Wohlstands, den sie in ihrer Kindheit und Jugend so sehr genossen hatte, erlebte und überlebte. Überleben und sich selbst treu bleiben ¾ das scheinen überhaupt die großen Themen im Leben Sidonie Csillags gewesen zu sein. Diese Frau blieb so sehr bei sich, dass sie auf die tödliche Bedrohung, die von den Nationalsozialisten für sie als Jüdin ausging, nicht mit Angst, eher mit einer Art Empörung reagierte, Empörung darüber, dass diese Menschen sich tatsächlich erdreisteten, in ihr Leben eingreifen zu wollen. Sidonie Csillag war kein politischer, kein gesellschaftlich engagierter Mensch, und einen ausgeprägten Hang zur Selbstreflexion kann man ihr ebenfalls nicht nachsagen. Dafür gelang es ihr, wo auch immer sie sich befand, ihr kleines Leben zuführen: ganz gleich ob in Österreich, Kuba, den USA, Thailand oder Brasilien - sie legte ihre Puzzles, organisierte Bridge-Runden, knüpfte Beziehungen an, traf sich mit Freundinnen und hielt Ausschau nach attraktiven Frauen, die sie leidenschaftlich begehrte. Nur selten versuchte sie, ihre Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Und wenn sie es versuchte, scheiterte sie. "Wenn es zum Klappen gekommen ist, war es vorbei", seufzte sie in hohem Alter. Sie genoss ihr Begehren, so lange es ein heimliches Begehren war. Die Realität hat ihren Phantasien nie entsprechen können.

Das vorliegende Buch ist schwer einzuordnen: Für einen Roman enthält es zu viele historische Belehrungen, für eine Biographie hält es zu wenig Distanz zur Hauptperson, und eine Streitschrift will auch nicht so recht daraus werden, weil die prüde, oft selbstgerechte, dünkelhafte Sidonie Csillag sich nicht als Galionsfigur der Lesben- und Schwulenbewegung eignet. Es scheint, als entzöge sich Sidonie Csillag über den Tod hinaus dem Versuch, in ihr Leben einzudringen, wenn sie auch in wohlwollender erzählerischer Absicht der Nachwelt ihr Gewesensein überliefert. In der zweiten Hälfte der 500 Seiten langen "Geschichte der Sidonie C." begnügen sich die Autorinnen denn auch weitgehend damit, Csillags Leben zu referieren, weitgehend unkommentiert auf den Leser wirken zu lassen und von Zeit zu Zeit auf die Subjektivität ihrer Perspektive hinzuweisen, da sie sich in vielem Wichtigen auf die Erinnerungen einer hochbetagten Frau verlassen mussten. In seinem schlechteren ersten Teil gleitet das Buch dagegen immer wieder in schwer erträgliche Kolportage ab. Da wird ohne eine Spur von Reflexion penetrant darüber geklagt, welchen Ekel Frauen hätten ertragen müssen, die zwar Frauen liebten, aber Männer heiraten mussten, um versorgt und vor Repressalien sicher zu sein. Da muss man seitenlange Schilderungen der vermeintlich abartigen sexuellen Vorlieben eines Mannes über sich ergehen lassen, der im Leben der Hauptperson überhaupt keine irgendwie bedeutsame Rolle spielte. Dass es sich bei diesen Schilderungen um die Gegenanklagen einer Frau handelte, die dieser Mann gerade zu Unrecht des versuchten Mordes bezichtigt hatte, scheint für die Autorinnen die Glaubwürdigkeit der Schilderungen in keiner Weise zu beeinträchtigen. Und wenn dann ein paar Seiten weiter noch eine Beschreibung folgt, wie ein paar kleine Fische im Bidet eines Berliner Hotelzimmers dafür herhalten müssen, das erotische Repertoire einiger lesbischer Frauen zu erweitern, ist der Gipfel der Trivialität erreicht. Schwer nachvollziehbare Zeitsprünge und Fokuswechsel, grammatische Merkwürdigkeiten und unmotivierte Wechsel der sprachlichen Stilebenen im ersten Teil des Buches erwecken überdies den Eindruck, als habe man verlagsseitig das Lektorat eingespart. Dafür sprechen auch die zahlreichen missglückten Metaphern. "Als Sidonie nach Wien zurückkommt, schlägt der Alltag wieder über ihr zusammen" ist noch vergleichsweise harmlos. "Als Klaus ein paar Tage später zu Csillags kommt, vibriert die Wohnung vor freudiger Anspannung." ist schon komischer, ebenso dass Klaus und Sidi "nur stumme Schachfiguren beim Brettspiel der Heiratspolitik der Wiener Gesellschaft" sind. Als dann aber klar wird, dass Sidonie und einer der wenigen Männer, in die sie sich in ihrem Leben verliebte, aufgrund von Missverständnissen nicht zueinander finden werden, gelingt den Autorinnen eine perfekte Schnulzenroman-Parodie: "Und so ertrinken Liebe und Spontaneität im bitteren See des Zweifels, des Misstrauens und der Verletzung."

Wer die ersten 200 Seiten furchtlos erträgt, lernt im Lauf der Erzählung eine in ihrem Selbstbehauptungswillen beeindruckende Persönlichkeit kennen. Aus dieser Persönlichkeit und einem ereignisreichen, fast ein Jahrhundert währenden Leben hätte man allerdings mit etwas mehr innerer Distanz ein besseres Buch machen müssen. Die historischen Exkurse sind gut recherchiert und informativ, aber in ihrer Wahrnehmung von Personen und Ereignissen nahezu kritiklos 500 Seiten lang Sidonie Csillags Perspektive und Bewertung zu übernehmen, ist zu riskant. Was, wenn sie noch häufiger in ihrer Einschätzung so daneben gelegen hätte wie bei Freud, der für sie bis zum Ende ihres Lebens ein "Trottel" blieb? Bis zu ihrem Tod war Sidonie Csillag der Auffassung, sie habe Freud systematisch belügen und ihm auf diese Weise klar machen können, dass alle seine Therapieversuche erfolglos bleiben würden. Dabei versprach Freud selbst sich nur wenig von einer Therapie homosexueller Menschen, soweit diese das Ziel einer Veränderung der sexuellen Orientierung verfolgte: " Die Psychoanalyse ist nicht dazu berufen, das Problem der Homosexualität zu lösen." ("Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität")

Titelbild

Ines Rieder / Diana Voigt: Heimliches Begehren. Die Geschichte der Sidonie C.
Deuticke Verlag, Wien 2000.
510 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3216305406

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