Eine Frist, zwei Generationen

Rudolf Noeltes Hörspielfassung von Tschechows "Kirschgarten"

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gedenken an Albi Klieber, der der dekadenten Figur des Gajew in Stefan Puchers Basler Inszenierung des "Kirschgartens" (1999) eine unverwechselbare Würde verliehen hat.

Tschechows "Kirschgarten" beginnt mit der Ankunft der Gutsherrin Ranjewskaja am Ort ihrer Kindheit. Es wird ihre letzte Ankunft dort sein, denn keiner kann mehr die Schulden für den Erhalt des idyllischen Ortes bezahlen, selbst wenn es noch eine Rettungsmöglichkeit gäbe. Schon zu Beginn ermahnt der für das Gut verantwortliche Kaufmann Lopachin die Ranjewskaja und ihren nöligen Bruder Gajew, der seine gesamte Habe in Form von Bonbons verfuttert hat, dass der Versteigerungstermin am 22. August nahe und die Zeit zum Handeln knapp werde.

Die Frist droht wie ein Damoklesschwert über dem Treiben, doch die Zeit verstreicht und es geschieht: nichts. Stattdessen wird bis spät in die Nacht geplaudert, die Ranjewskaja leidet an den Heimsuchungen alter Fehler und Schicksalsschläge, und Gajew geht der jungen Generation mit seinem Geschwätz auf den Geist. Am Rande hört man Stimmen von heimatlosen Figuren wie der Erzieherin Charlotta, die in fortgeschrittenem Alter ihre verlorene Identität vermisst, oder dem ewigen Studenten Trofimow, der zwar Nietzsche nie gelesen hat, aber dennoch seine Ideen mit Lopachin diskutieren will. Überall empfindliche, verwöhnte, kranke Nerven und die Hoffnung auf halbseidenen Geldregen. In Gajews Rede an einen Schrank kulminiert der Irrwitz dieser Situation: Alle memorieren und lamentieren, nur Lopachin, der als einziger seine Verantwortung spürt, sitzt wie auf heißen Kohlen.

Das verschwenderische Leben der Ranjewskaja und ihre Ignoranz sind allzumenschlich und gleichzeitig borniert: Den Kirschgarten verpachten, die berühmten Bäume abholzen und Ferienparzellen einrichten? Was für eine törichte Idee! Derweil spielt das kleine jüdische Orchester Kaffeehausmusik, und keiner weiß, wie die Musiker entlöhnt werden sollen. Damit versperrt sich die Gutsbesitzerin einem wenn auch nur halbwegs glücklichen Ende. "Ich warte und warte auf etwas", heißt es an einer Stelle, und eigentlich ist egal, wer das sagt. Aus einer Mischung von Ennuie und Verzweiflung über die eigene Biographie flackern immer wieder Anfälle von Hysterie hervor, und weiter vergeht die Zeit.

So kommt, was kommen muss: Die Frist verstreicht, der Kirschgarten ist verkauft. Doch die Ranjewskaja erkennt die Zeichen nicht einmal, als ausgerechnet Lopachin, der Bauerssohn, dessen Großvater noch als Leibeigener auf dem Gut arbeitete, den Kirschgarten sein Eigen nennt. Lopachin, der bei der Ankunft der Gutsherrin selbst betonte: "Man darf nicht vergessen, wer man ist." Der einzige der Anwesenden, der Ehrgeiz hat und sich zum Handeln verpflichtet fühlt, hat den Aufstieg geschafft, der ihm vor Generationen mit allem Geld der Welt nicht möglich gewesen wäre: Er hat die Vergangenheit und die gesellschaftlichen Schranken überholt, und weder die Ranjewskaja noch er selbst können dies sofort begreifen.

Das Stück endet mit der Verabschiedung eines unvergessenen alten Lebens und der hoffnungsvollen Begrüßung eines wenn auch ungewissen neuen Lebens, mit der Verstreuung der Anwesenden über alle Teile Rußlands und Europas, in neue Anstellungen und Verhältnisse, und doch mit der Aussicht, daß sich außer dem Abriss des Kirschgartenguts nichts Wesentliches ändern wird. Dazu hätte es der nie gekommenen Einsicht in die veränderten Bedingungen der Zeit bedurft. Es hätte! Nicht einmal der mehrmals angedeutete Heiratsantrag Lopachins an Warja, die Pflegetochter der Ranjewskaja, erklingt. So schließt der "Kirschgarten" im Konjunktiv II und mit einer großen Melancholie als einzigem Überbleibsel.

Tschechow schuf eine undramatische Elegie für die Bühne, die einem sinnentleerten, aber vielleicht doch nicht sinnlosen Warten bei Beckett vorgreift. Von tragischen Vorfällen keine Spur. Verlorene Existenzen tummeln sich zwischen den Akten und bekommen ein würdiges Denkmal für ihr dekadentes Leben. Unerbittlich verrinnt die Zeit, und Gestalten, die bis zuletzt das Zerplatzen ihrer Illusionen nicht wahrhaben möchten, verschwinden allmählich, versickern im Nirgendwo, bis nur noch der alte, dem Tode nahe Firs in den verlassenen Gemäuern eingeschlossen zurückbleibt.

Rudolf Noeltes Hörspiel vom "Kirschgarten", das der Hörverlag nun als CD neu herausgebraucht hat, entstand in seiner stark gekürzten Fassung im Herbst 1969 für den Bayrischen Rundfunk, noch vor seiner Inszenierung des Stückes am Münchner Residenztheater 1970. Feinsinnig nutzt Noelte die verschiedenen Möglichkeiten von Theater und Hörspiel. Die Dialoge sind nur spärlich mit Geräuschen und Musik ausgeschmückt. So kommt jedes einzelne Wort in seinen kleinsten Nuancen zur Geltung, und vor dem inneren Auge des Zuhörers ergibt sich ein klar umrissenes Bild der Figurenarrangements. Einzig das leise, bedrohliche Ticken einer alten Uhr durchzieht das Stück wie einen roten Faden. Gesprochen wird der Text von großartigen Schauspielern des vergangenen Jahrhunderts, unter anderem von Marianne Hoppe und Erwin Faber. Das Hörbuch wird von einem ausführlichen Begleitheft von Lothar Müller zur Rezeptionsgeschichte des "Kirschgartens" ergänzt.

Das frappierendste an Noeltes Hörspielfassung ist, daß der Zuhörer Tschechows Drama durch eine weitere zeitliche Brechung erfährt. Noeltes "Kirschgarten" ist deutlich spürbar eine Interpretation der Nachkriegszeit, die den Umgang mit der Zeit und den Fehlern der eigenen Generation in Tschechows Verständnis spiegelt. Die Figuren seines Dramas werden zu reflektierenden Klangkörpern, zu transparenten Schatten der Vergangenheit. Der heutige Zuhörer horcht über Noeltes sensible Klang- und Stimminszenierung in zwei Jahrhunderte zugleich zurück. Ein eigenständiges Kunstwerk des im Herbst 2002 verstorbenen Theater- und Opernregisseurs, dem sein Ohr zu leihen uns einen etwas weniger zynischen Blick auf die Generationenunterschiede und den eigenen Hedonismus erlaubt.

Titelbild

Anton Tschechow: Der Kirschgarten. Hörspiel.
Der Hörverlag, München 2003.
95 min., 24,95 EUR.
ISBN-10: 3895847070

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