Wie sich die Sicht auf die Welt nach der Revolution veränderte
Ein Sammelband erkundet die Literatur und Kultur im Nachmärz
Von Claude D. Conter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Vormärz-Forschung hat sich seit einigen Jahren sichtlich weiterentwickelt, insbesondere unter dem Impuls der Paderborner Tagung "Vormärz - Nachmärz" aus dem Jahre 1998. Nach den Diskussionen um Epochenabgrenzungen rückte im Jubiläumsjahr der 1848/49 Revolutionen die Frage nach Kontinuität und Brüchen in der Literatur in den Mittelpunkt. Diese Frage ist in den letzten Jahren von Seiten der Historiker und Literaturwissenschaftler intensiv und differenziert geführt worden. Zugleich hat sie die Vormärz-Forschung angeregt, jene Zeit wissenschaftlich zu erkunden, die in den Literaturgeschichten immer noch schnell übersprungen wird: die 1850er Jahre. Nach den Studien zum ästhetischen Historismus von Hannelore und Heinz Schlaffer (1975) hat es bis heute trotz zunehmend zahlreicher, vor allem autorenbetonter Einzelstudien keinen Versuch einer Metanarration mehr gegeben. Das ist auch der Skepsis geschuldet, vorschnell wie einst in der Vormärz-Forschung einzelne Phänomene, literarische Bewegungen oder Themenbereiche zu verallgemeinern oder als kohärenten Epoche zu konturieren. Vielmehr wird erkennbar, dass kleine Studien zu den 50er- und 60er Jahren ein vielfältiges Bild einer sehr differenzierten Literaturlandschaft geben.
Der von Helmut Koopmann und Michael Perraudin herausgegebene Band "Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848" ordnet sich in diese Reihe der kleinen Einzelbeiträge ein. Er fasst die Ergebnisse von zwei Nachmärz-Tagungen zusammen, die in Birmingham und Cambridge (Dezember 1997 und September 1999) die Arbeit aus dem Forschungsprojekt "Deutsche Literatur und Kultur vom Nachmärz bis zur Gründerzeit in europäischer Perspektive" dokumentieren. Die Fragestellung des Bandes ist sehr weit gefasst. Diskutiert werden sollen "Aspekte der Kultur und des Bewusstseins in Deutschland und Europa im Anschluss an die 1848 Revolution" und "Reflexionen über die Welt, deren Bedeutungen und wie diese zu vermitteln waren". Diese programmatische Offenheit, deren Unspezifizität auch problematisch ist, führt dazu, dass die einzelnen Beiträge in erster Linie als Anregungen zu verstehen sind, keineswegs aber als eine Erschließung des Problembereiches der Wirklichkeitserfassung im Nachmärz. Viele der Beiträge zeigen aber auch, dass eine weitere Beschäftigung lohnend ist. Denn mit der zentralen Frage nach dem Realismus der Literatur nach 1848 berührt die Nachmärz-Forschung die Debatte um den Beginn der Moderne, eine These die Sigrid Weigel vor Jahren mit dem Schlagwort vom Nachmärz als Laboratorium der Moderne initiiert hat.
Vier Tendenzen sind dem Sammelband "Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848" zu entnehmen - 1. Die Diskussion um die Kontinuitäten und Brüche durch die Revolution wird fortgeführt. Hugh Ridley etwa zeigt im Werk von Friedrich Spielhagen die Kontinuitäten auf. Auf thematischer Ebene sind sie in der Ideologiekritik zu suchen, vor allem in der Kritik am ultramontanen Katholizismus, am Kapitalismus, an der Industrialisierung und an den Klassengegensätzen. Stehen in Spielhagens Werk auch die vormärzlichen Probleme der Selbstentfremdung des Individuums im Mittelpunkt, so distanziere er sich allerdings vom "Diskussionsstil" der Vormärzprosa und orientiere sich an den auf dem Büchermarkt erfolgreichen Romanmodellen, in denen Probleme harmonisiert würden. Zu einem Bruch hat die Revolution auch im Leben und Werk Sigmunds Engländer geführt.
Hubert Lengauer hat in seiner Porträtstudie des jüdischen Kritikers und Schriftstellers allerdings auch deutlich gemacht, dass das Jahr 1848 begonnene Prozesse verstärkte. Geht Engländer einerseits ins Exil und kommt es wegen der unterschiedlichen Einschätzung der Revolution zum Bruch mit Hebbel, als dessen Adlatus er den Zeitgenossen galt, führt die biographische "Zeitenwende" nicht zu einer anderen Bewertung durch die Zeitgenossen; Engländer bleibt für viele ein scharfer Analytiker der Literatur, aber nur ein mittelmäßiger Autor. Auch bleiben seine Themen von den politischen Ereignissen unberührt: der Pauperismus und die "Bedrohtheit der Schriftsteller-Existenz". Zudem ist Engländers Lebensweg auch insofern charakteristisch, als er nach 1848 trotz literarischer Ambitionen ausschließlich als Journalist tätig war.
Andreas Wirsching zeigt in seinem präzisen Beitrag anhand der beiden liberalen Historiker Georg Gottfried Gervinus und Heinrich von Sybel, wie sehr sich bei einem vergleichbaren Geschichtsverständnis vor 1848 die politischen Meinungen nach der Revolution ändern. Insbesondere in der Einschätzung der Rolle Preußens kommen beide Historiker zu entgegengesetzten Ansichten. Eine Deutungs- und Meinungsverschiedenheit bildet auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Lothar Schneider: Friedrich Theodor Vischers und Robert Zimmermanns Urteile über das 'Hamletsyndrom' (Franz Loquai), die "Krankengeschichte der deutschen Intellektualität". Aus der Perspektive der hegelianischen (Vischer) und der herbartianischen (Zimmermann) Philosophie erörtern beide am Beispiel von Shakespeares Drama ästhetische Konzepte, deren gesellschaftlichspolitische Bedeutung von der Bewertung der 1848-Revolution abhängig gemacht wird. Vischer vertritt die These, dass eine politische Idee bereits Geschichte sein muss, damit sie in der Poesie Berücksichtigung findet. Demnach wird Hamlet konsequent zum grübelnden Intellektuellen, der ohne Tat bleibt. Zimmermann kritisiert die idealistische Ästhetik Vischers, nach der Hamlet ein "Typus der deutschen Geistesart" ist. In seinen formalästhetischen Überlegungen psychologisiert er die Figur Hamlets, die er als im Rollen- und Intrigenspiel der elisabethanischen Kultur gefangenen Höfling interpretiert. Hamlet ist kein Opfer des Denkens mehr.
Beispielhaft für die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen ist der umfassende Beitrag von Michael Perraudin, der die Konzepte von Sinnlichkeit bei Autoren wie Heine, Eichendorff, Gotthelf, Auerbach, Büchner, Börne, Grillparzer, Nestroy, Stifter, Storm und Mörike vor und nach der Revolution vergleicht. In der im Vormärz überwiegend mit moralischen Kriterien geführte Debatte über den Sensualismus und das daraus abgeleitete Bild vom Menschen als "amoralische, triebgesteuerte Kreatur" ist ein Konnex zwischen Triebsteuerung und sozialen Umbrüchen aufgestellt worden. Diese These vom moralischen Zerfall der Gesellschaft und der revolutionären Ausbrüche, von sozialer Revolution und sexueller Freizügigkeit wird im Vormärz bereits von mehreren Autoren vertreten, wenn auch unterschiedlich bewertet. Die Revolution bestärkt deren Einschätzungen eher, als dass sie einen Umschlag bewirken würde. Die Kritik am Sensualismus wird radikalisiert bis hin zum Wunsch nach dessen Überwindung. So überarbeiten Autoren wie Stifter und Storm ihre Erzählungen und Novellen nach der Revolution vor allem in der Figurencharakterisierung, indem sie erotische Begehrlichkeiten und triebgesteuertes Handeln durch Mäßigung und Unterdrückung ersetzen.
2. Der Band führt die Grundüberlegungen zu den Realismusvorstellungen und zur Moderne weiter. Hugh Ridley diskutiert Axel Drews und Ute Gerhards These zur Kollektivsymbolik in Spielhagens Roman "Sturmflut" und kommt mit ihnen zu dem Ergebnis, dass die "Diskursintegration" ein Kennzeichen dieses Romans sei. Problematisch ist für Ridley allerdings die Konsequenz daraus, dass so auch die Periodisierungsfrage ausgegrenzt bleibe. Denn indem Texte auf ihre Kollektivsymbolik hin reduziert und nur noch als "Schnittpunkt einer gesellschaftlich-kollektiven und subjektiven Erfahrung" verstanden würden, blieben "Aspekte der Diachronie" nebensächlich. Die Folge ist, dass die These von Jürgen Link, die Literatur nach 1848 sei ohne avantgardistischen Impetus und ohne Innovation, dazu führt, im Nachmärz keinen modernen Realismus mehr zu erkennen. Ridley will hingegen auf der Grundlage der Realismusdiskussion eine Periodisierungsdebatte weiterführen, bei der die ästhetische Bruchstelle das Jahr 1848 bildet und nicht erst das Ende des 19. Jahrhunderts den vermeintlichen Beginn der Moderne darstellt.
Lothar Schneider präzisiert Ridleys Gedanken. Zum einen bestärkt er dessen These, indem er nachweist, wie sich Spielhagen in seiner Romanpoetik vom idealistischen Realismus verabschiedet. Wo Ridley von harmonischen Romanmodellen spricht, macht Schneider deutlich, dass das darin entworfene Bild "autonomer und temperierter Subjektivität" nicht aus Gründen der Anpassung an eine gemäßigte, postrevolutionäre Zeit erfolgt sei, sondern aus der Erwartung heraus, kein deviantes Verhalten mehr zu schildern. Schneider bedauert dabei, dass keine "Brücke" von Spielhagens Romanpoetik in die Moderne führe und stellt daher dessen Novellenkonzept anhand von Spielhagens Besprechung der "Wahlverwandschaften" Goethes vor, das es dem Autor erlaube, "moderne Prosagebilde zu denken". Schneider versucht so, wie zuvor Ridley, die Moderne im Nachmärz zu verorten.
3. Einzelne Beiträge lenken die Aufmerksamkeit auf Desiderate, die einen gemeinsamen Nenner in der Literatursoziologie finden.
Die von Jürgen Link sich in der Forschung der Literatur des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuende Interdiskurstheorie wird von Wulf Wülfing in seinem Beitrag über die Berliner Luft als Metapher für das politisch-gesellschaftliche Klima im nachmärzlichen Preußen aufgenommen. Der überwiegend im Briefwechsel mit Theodor Storm geführte Streit um die Berliner Luft zeigt, wie dieses Kollektivsymbol zugleich Indikator für gesellschaftliche Hierarchien, "Ordnungsraster für die soziale Karthographie der Berliner Stadtteile", meteorologisches Problem, "politische Großwetterlage", Hinweis für den Metropolismus, Nationalstereotype und Garant patriotischer Ästhetik sein kann. Wülfing arbeitet heraus, wie notwendig es bei der Diskussion um Kollektivsymbole ist, die Trägerschichten der beteiligten Diskutanten zu berücksichtigen. Er plädiert so noch einmal für eine Soziologie des literarischen Lebens, auf deren Erkenntnisse die Nachmärz-Forschung angewiesen ist.
Auf ein weiteres Desiderat verweist Christine Haug in ihrem bereits im Sammelband "Gutzkow lesen!" (Hrsg. von Gustav Frank und Detlev Kopp 2001) erschienenen Beitrag zu den Reformvorschlägen Karl Gutzkows für den Buchhandel. Haug zeigt anhand der Wünsche Gutzkows zur Beschleunigung des Buchabsatzes, wie sich die Verlagslandschaft im Nachmärz verändert. Der Einfluss der Eisenbahn auf die Massenproduktion von Reiseliteratur und gesonderten Formaten ist dabei ebenso bedeutsam wie die neuen Marketingstrategien. Für das Verständnis literarischer Formen ist die Kenntnis des Literaturbetriebes, der Abläufe in der Buchproduktion unabdingbar. Denn dass sich der Beruf des Schriftstellers ab 1850 wesentlich weiterentwickelt, ist nicht nur ein signifikanter Hinweis für die Modernität im Nachmärz, sondern auch für die Professionalisierung des Literaturmarktes.
4. Der Band führt des weiteren einen Ansatz fort, der seit den drei Studien über die europäische Dimension im Vormärz gepflegt wird und darin besteht, die deutsche Literatur im internationalen Geflecht zu beschreiben. Dabei handelt es sich einerseits um Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, etwa in Hubert Lengauers Beitrag über Thomas Carlyle in der deutschen Literatur. Andererseits werden Entwicklungen vor und nach der Revolution in anderen europäischen Ländern beschrieben. England gilt ein besonderes Interesse: Ian Hilton diskutiert die Reaktionen auf 1848 in England, Brigitte Anton dokumentiert die vier Gesichter von Oscar Wildes Mutter, und John Rignall zeichnet die Reaktionen von A. H. Clough und George Eliot auf 1848. Wendy Mercer untersucht das Scheitern der französischen Emanzipationsbewegung in Frankreich und die literarischen Antworten darauf.
Der Sammelband eröffnet einen heterogenen Einblick in die komplexe Zeit zwischen 1848/49 und 1870/71. Vor allem die Diskussionen über die Brüche und Kontinuitäten erweisen sich immer noch als aufschlussreich, insbesondere dann, wenn die ästhetischen statt die politischen Entwicklungen diskutiert werden. Dies scheint aus zwei Gründen notwendig. Zum einen kann die Frage nach dem poetischen Realismus/Frührealismus dahingehend ergänzt werden, inwiefern sie sich aus einem Übergang vom Vormärz her beleuchten lässt. Zum anderen bleibt Norbert Otto Ekes These zu diskutieren, ob es sich beim Nachmärz eher um einen mentalen denn einen ästhetischen Wandel handele. Die Frage nach der Moderne wird dabei sicherlich sehr vorsichtig zu beantworten sein. Die Anregungen des Bandes sollen diesbezüglich Ernst genommen werden, sich eine größere literaturhistorische Breite zu erarbeiten, damit keine vorschnelle Thesen formuliert werden. Dazu ist dann allerdings auch eine über Autoren wie Gutzkow, Fontane und Spielhagen hinausreichende Beschäftigung nötig.
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