Dichtung ist Wahrheit

Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den Südafrikaner J.M. Coetzee

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Coetzee porträtiert die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise", hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, das am 1. 10. dem 63-jährigen südafrikanischen Schriftsteller John Maxwell Coetzee die mit umgerechnet rund 1,1 Millionen Euro dotierte wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zusprach.

Am 10. Dezember soll der Autor, der schon im Vorfeld als einer der heißen Kandidaten gehandelt wurde, in Stockholm den Preis entgegennehmen.

Zumindest sieht es das offizielle Protokoll so vor, doch Coetzee, der als öffentlichkeitsscheu gilt, hat auch bei seinen beiden Booker-Preis-Ehrungen durch Abwesenheit geglänzt. So schwierig und rätselhaft wie seine Bücher ist auch der Autor selbst, der lange ein Geheimnis um seine Vornamen machte (es geistert noch die Variante Jean-Marie durch einige Nachschlagewerke).

Coetzee wurde am 9. Februar 1940 in Kapstadt als Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Lehrerin geboren, studierte später in den USA Anglistik und Mathematik. Nach der Promotion lehrte Coetzee, der als Programmierer zu den Experten der ersten Computergeneration gehört, an der Universität Buffalo, ehe er 1972 als Dozent für Englisch in seine Heimatstadt Kapstadt zurückkehrte, wo er 1984 Professor für englische Literatur wurde.

Kapstadt spielt in seinem Werk eine ähnlich dominante Rolle wie etwa Danzig im Frühwerk von Günter Grass. Beide verbindet, dass sie ihre Heimatstadt als Folie benutzen, um größere politisch-gesellschaftliche Missstände zu spiegeln. Wie die Figuren seiner Romane ist Coetzee ein Außenseiter, ein Schriftsteller, für den die Literatur als Kontrast zur wechselvollen Biografie existenzielle Bedeutung gewonnen hat. "Dichtung ist Wahrheit", mit diesen knappen Worten hat Coetzee sein literarisches Credo auf den Punkt gebracht.

In der Stockholmer Begründung wurde die "verschlagene Komposition seiner Bücher, der verdichtete Dialog und seine analytische Brillanz" gerühmt. Seine Werke - er debütierte 1974 mit den Erzählungen "Dusklands" - sind mit beinahe geometrischer Strenge durchkalkuliert von der ersten bis zur letzten Seite: der ausgebildete Mathematiker ist nicht zu leugnen.

Seinen ersten großen internationalen Erfolg feierte Coetzee 1983 mit "Leben und Zeit des Michael K.". Für diesen Roman erhielt er seinen ersten Booker-Preis. Für Aufsehen sorgte er nur ein Jahr später mit dem Roman "Warten auf die Barbaren", das die blutigen Übergriffe unter dem Apartheidregime schildert und durch den Foltertod des Studentenführers Steve Biko inspiriert wurde. Doch so vordergründig politisch geht es eher selten bei Coetzee zu.

Er bevorzugt die hintersinnige, an Kafka erinnernde Parabel. So auch in seinem absoluten Meisterwerk "Schande". In diesem Roman, für den er im Jahr 2000 den zweiten Booker-Preis erhielt, geht es um eine doppelte Vergewaltigung. Der Protagonist David Lurie, ein Professor für Kommunikationswissenschaft, verliert seinen Job an der Universität, weil er sich an seiner Studentin Melanie vergangen hat. Lurie zieht sich zurück auf die Farm seiner lesbischen Tochter Lucy, die später ihrerseits Opfer einer Vergewaltigung wird und die Tat mit erstaunlicher Gelassenheit hinnimmt, quasi als Strafe für das Vergehen ihres Vaters akzeptiert.

Die hier von Coetzee inszenierte Gewalt gegen Individuen zeichnet den Verfall der moralischen Werte in der südafrikanischen Gesellschaft nach. So lassen sich diese privaten Schicksale auch als Allegorie auf den unsicheren Status quo in der südafrikanischen Gesellschaft der Post-Apartheid-Epoche interpretieren. Zu recht rühmte die Stockholmer Akademie Coetzee als "gewissenhaften Zweifler, schonungslos in seiner Kritik der grausamen Vernunft und der kosmetischen Moral der westlichen Zivilisation." Außenseiter und Ausgestoßene, Personen, die isoliert leben oder selbst die Isolation gesucht haben, sind die Protagonisten im Werk des zweiten südafrikanischen Nobelpreisträgers (nach Nadine Gordimer 1991), dessen frühe Werke (allerdings erfolglos) in den 80er Jahren schon einmal in deutscher Übersetzung im Carl Hanser Verlag erschienen waren.

Enttäuscht von der politischen Entwicklung in seiner Heimat hat sich Coetzee vor einem Jahr zur Übersiedlung nach Australien entschlossen, wo er heute an der Universität Adelaide tätig ist. Vom Erzählband "Dusklands" (1974) bis hin zu "Schande" (2000) zieht sich des Autors Leiden an seiner Heimat wie ein roter Faden durch das Oeuvre. Die Stockholmer Jury hat - wie schon im letzten Jahr - eine gute Wahl getroffen.

Die wichtigsten Werke Coetzees liegen heute teilweise in neuen Übersetzungen im S. Fischer Verlag vor.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Der Junge. Eine afrikanische Kindheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
208 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3100108116

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Titelbild

John Maxwell Coetzee: Das Leben der Tiere.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
96 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3100108175

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John Maxwell Coetzee: Schande. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
285 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3100108159

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Titelbild

John Maxwell Coetzee: Warten auf die Barbaren. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
285 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3100108140

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Titelbild

John Maxwell Coetzee: Die jungen Jahre.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100108191

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