Mein Name sei Gehrer

Rolf Dobelli entdeckt in seinem Debütroman "Fünfunddreißig" die Leiden eines Mannes in den besten Jahren

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mit fünfunddreißig noch nicht ganz oben ist, der wird es auch nicht mehr schaffen. Gehrer hat gut Lachen über dieses ungeschriebene Gesetz der modernen Arbeitswelt. Denn er ist glücklich verheiratet, finanziell sorgenfrei und sitzt beruflich fest im Sattel. So ist es nur konsequent, dass er als Marketingstratege zur Weiterbildung an die Harvard Business School geschickt wurde, wo er im Kreis der weltweit führenden Marketingspezialisten den letzten Schliff zum perfekten Topmanager erhalten sollte. Heute, an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, wird Gehrer in Zürich zurückerwartet. Eine kleine gediegene Feier im Kreis der Kollegen steht an.

Und was macht Gehrer an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag? Nein, er spielt nicht die gewohnte Rolle seines Lebens. Er sitzt auf einer Parkbank am Züricher See. Im Regen. Und macht sich Gedanken. Über sein Leben. Und darüber, weshalb er den Kurs in Harvard abgebrochen hat, um stattdessen in Indien sich selbst näher zu kommen.

Da sitzt also einer mit einem makellosen Jungmanager-Lebenslauf und macht sich Gedanken, die nicht in seine Welt passen. Er stellt die Fragen nach dem Sinn und nach Alternativen. Ist mit fünfunddreißig wirklich nichts mehr zu ändern am Lebensentwurf "Gehrer"? Es gibt Harvard, den Karriereweg, und Indien, den Ausstieg. Aber auch dazwischen gibt es abseits von den Fragen nach dem Älterwerden und der Planbarkeit der Kinderzahl viele verschiedene Möglichkeiten, einen anderen, einen unbekannten Gehrer zu erwecken. In einem unermüdlichen Monolog mit sich selbst lotet er die vielen Möglichkeiten seiner Persönlichkeit aus.

Man könnte es Midlife Crisis nennen. Die Symptome Gehrers spiegeln allerdings vielmehr das Bewusstsein einer ganzen Generation wider, die nach den Jahren des ständigen Aufstiegs und der Geborgenheit in einer schnellen, wechselhaften, aber dennoch Sicherheit versprechenden Arbeitswelt einen Gang zurückschalten muss und sich plötzlich Zeit für eine neue Selbstdefinition nehmen muss.

Rolf Dobelli hat an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag mit dem belletristischen Schreiben begonnen. Als Finanzchef und CEO verschiedener Firmen im globalen Dorf der New Economy groß geworden, gründete er in den späten neunziger Jahren seine eigene Firma. Und kam wie sein Held Gehrer mit fünfunddreißig plötzlich zum Nachdenken. Der Autor schreibt also über Erfahrungen, von denen er etwas versteht. Und das ist gut so, denn dies hat uns einen zuweilen zwar sich mühsam von Satz zu Satz schleppenden, dann über weite Strecken aber grandios weitersprudelnden Roman beschert.

Gehrer ist nicht Gantenbein und er ist auch nicht Stiller. Aber ihn verbindet mit den beiden berühmten Romanhelden Max Frischs mehr als die sprachliche Radikalität in der Selbsterforschung und die Zerrissenheit der persönlichen Existenz. Es ist die Mischung aus humorvollem Augenzwinkern und sarkastischem Realitätssinn, die uns Gehrer so nahe kommen lässt. Seine Selbstreflexion wirkt zuweilen langatmig und alltäglich bis zur Banalität, um dann mit plötzlichen fantastischen Ausflügen in eine poetische Sprache zu überraschen. In jedem Fall geben uns seine Midlife-Crisis-getränkten Gedanken auch vor und nach dem fünfunddreißigsten Geburtstag viel zu denken.

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Rolf Dobelli: Fünfunddreißig. Midlife Story.
Diogenes Verlag, Zürich 2003.
204 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3257860994

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