Romantische Reisen auf schwierigem Gelände

Kann man eine Kulturgeschichte der Romantik schreiben?

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine "Kulturgeschichte" der Romantik kündigt der Einbandumschlag an. Um "Lebenswelten" handele es sich, so der Untertitel. Schlägt man das Inhaltsverzeichnis auf, sieht man sich mit einer Systematik konfrontiert, die einen interessanten Blick auf die "Romantik" riskiert und dabei einige Aspekte berührt, die nicht im standardisierten Kanon der Romantikbetrachtungen enthalten sind, zumal Gesamtdarstellungen der Romantik aufgrund des heterogenen Gegenstandes in letzter Zeit eher selten sind.

Das auf zwei Bände konzipierte Werk, von dem hier der erste Band "Lebenswelten" vorliegt und eine "Kulturgeschichte der deutschen Romantik von 1795 bis 1820" sein möchte, kommt über eine "Einleitung", einen Abschnitt "Was ist Romantik?" und der etwas umfassenderen Schilderung "Spätaufklärung und bürgerliche Emanzipation in Deutschland" zum Hauptteil des Buches, dem in vierzehn Unterkapitel aufgeteilten Abschnitt "Lebenswelten der Romantiker".

Worum geht es dem Autor, wenn er als Untertitel den Begriff "Lebenswelten" benutzt? Was versteht man unter diesem Begriff und worin liegt die Besonderheit eines solchen Blickes auf die Romantik? Einen Anhaltspunkt findet der Leser in der Einleitung: "Die deutsche Romantik zählt zu den bemerkenswertesten Kulturen der Neuzeit, ihre unglaubliche Phantasie, mächtige Ausdruckswelt und philosophische Breite faszinieren nach wie vor. Ihre Romane werden noch gelesen, ihre Musik gehört und ihre Kunstwerke bewundert. Zahlreiche Darstellungen ihrer Protagonisten [...] finden ihre Leser bzw. Bewunderer jenseits aller Auseinandersetzung derer, die Schwierigkeiten haben mit der Uneindeutigkeit der Bewegung."

Und folgerichtig beschreibt Dülmen den Kern der Romantik als das Streben nach dem Gesamtkunstwerk, die gegenseitige Durchdringung der Themen und Lebensbereiche, von Literatur und Alltag, von Philosophie und Naturwissenschaft. "Als eine Bewegung, die den 'ganzen' Menschen betraf oder zumindest betreffen wollte, gab es für sie kaum einen kulturellen Bereich der Zeit, der nicht thematisiert wurde: Natur und Kunst, Wissenschaft und Geschichte, Musik und Politik, Gefühl und Unbewußtes. Eine Dimension isoliert zu betrachten, verschließt den Einblick und das Verständnis des ganzen Lebenszusammenhangs, in dem hochbegabte Männer und Frauen sich ein neues Leben und Denken erträumten und erdichteten, ja in dem sie das Leben zu einem Kunstwerk zu gestalten versuchten."

Aber ist die Romantik deshalb schon eine eigenständige "Kultur"? Und wenn dies so ist, was macht diese "Kultur" aus, oder besser: "Was ist Romantik?" Die Eckdaten der Gesamtdarstellung werden auf die Jahre 1795 und 1820 gelegt. Zur genaueren Charakterisierung benutzt Dülmen drei Texte, ein paar Bilder und ein wenig Musik. Dabei setzt er vielleicht auf eine zu einfache Beschreibung des Phänomens, um der im Vorfeld konstatierten Komplexität der "Romantik" gerecht zu werden: Ludwig Tiecks "getreuer Eckhart", Heinrich von Kleists "Marquise von O" und Hoffmanns "Sandmann". Der Verfasser rekapituliert: "Zwar erschöpft sich die künstlerische Produktion der Romantik nicht in diesen drei Geschichten. Sie sind aber repräsentativ für die literarische romantische Fantasie und Kunstwelt. Ludwig Tieck, Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann sind als romantische Literaten bis heute bekannt geblieben und ihre Erzählungen zeitigten eine beträchtliche Wirkung."

In den folgenden Kapiteln werden unter verschiedenen Blickwinkeln die jeweils interessantesten Persönlichkeiten, die man einem Abschnitt zuordnen kann, vorgestellt. Abschnitte zu Lebensphasen und Umbruchszeiten, zu regionalen Ausprägungen der Romantik, zu speziellen Kommunikationsstrukturen und historischen Kontexten, die für die Romantik und ihre Protagonisten bestimmend waren, liefern die Folie, vor der die einzelnen Protagonisten nacheinander vorgestellt werden - was in den meisten Fällen eine gute Übersicht zu dem entsprechenden Kapitel ergibt.

Einiges sei jedoch kritisch angemerkt. Wo es nicht um die Protagonisten geht, wo keine Personen im Mittelpunkt der Darstellung stehen, sondern Programme, Projekte, Themen, Strukturen und Institutionen wirkt die Darstellung manchmal ein wenig farblos. Hier werden die Zusammenhänge, auf die einleitend verwiesen wurde, nicht in ihrer Komplexität und gegenseitigen Verknüpfung und Durchdringung deutlich. Die Kreise werden zwar tangiert, an denen sich die verschiedenen Themen berühren, aber es ist ja vor allem "nicht" die Konzentration auf die Literatur, die die Besonderheit der Romantik ausmacht, sondern die Präsenz der Romantik in allen Bereichen der Kultur. Auch bleibt es wohl in den Nebelschleiern Friedrich'scher Bilder verborgen, warum die (deutsche) Romantik denn überhaupt eine eigenständige "Kultur" darstellen soll und warum es sinnvoll ist, unter einem kulturgeschichtlichen Ansatz das Thema "Romantik" zu behandeln. Unversehens tritt - wie so oft - die Unverbindlichkeit des Mode- und Marketingbegriffs "Kultur" in den Vordergrund.

Gerade die Konzeption der zentralen Textteile des Buches ist positiv hervorzuheben. Die Kapitel beginnen mit einem Bildzeugnis, oft gefolgt von einem Brief oder anderen zeitgenössischen Dokumenten. Auch in den fortlaufenden Texten wird auf leserförderndes und lesestützendes Material gesetzt, ohne dass vom Autor pädagogisch-lenkend und interpretativ das Verständnis von Romantik vorweggenommen wird. Texte und Bilder sind über ein Personen-, Sach- und Ortregister gut aufzufinden. Rundherum ein solid gemachter und gut ausgestatteter Band, mit Literaturhinweisen, Anmerkungen und Zeittafeln gewinnbringend ergänzt. Der Band hebt sich von dem Einerlei der Publikationen zur Romantik gewinnbringend ab, liefert gute Übersichten zum Thema und hat einem zusammenfassenden Blick für wesentliche Aspekte der Romantik. Er liefert zwar keine umfassende Einführung und Gesamtdarstellung, aber in Verbindung mit einigen der älteren Standardwerke ist er eine hervorragende Einstiegslektüre zu dieser wohl innovativsten Literaturepoche der deutschen Literaturgeschichte. "Ohne die Wirkung einer Kulturepoche außer Acht zu lassen, geht es nicht darum, Vergangenheit an modernen Lebens- und Weltvorstellungen zu messen, sondern ihre Werte und Maßstäbe zunächst aus dem Kontext der Zeit und ihren zeitgenössischen Artikulationsmöglichkeiten zu gewichten." Trotz einiger Kritikpunkte ein gutes und empfehlenswertes Handbuch.

Titelbild

Richard van Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik.
Böhlau Verlag, Köln 2002.
350 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412073024

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