Und ewig gründet der Kanon

Bettina Kümmerling-Meibauer weiß, wie man Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur bestimmt

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder- und Jugendliteratur ist in der Literaturgeschichtsschreibung, in Forschung und Lehre an den Universitäten immer noch randständig, abgesehen von einzelnen Autoren und Texten oder sogenannten 'Crossover'-Phänomenen - Literatur, die von Kindern und Erwachsenen zugleich gern gelesen wird. Die Randständigkeit hat verschiedene Gründe, darunter die für das Verständnis der Kinder notwendige geringere sprachliche wie inhaltliche Komplexität und die in der Aufklärung festgeschriebene, für einen Großteil der Texte weiterhin gültige pädagogische Absicht. Ein weiteres Problem steckt in der Herangehensweise. Die Kinderliteraturforschung wird in größerem Umfang erst seit den 70er Jahren betrieben und ihr steckt immer noch die ideologiekritische Haltung der damaligen Literaturwissenschaft in den Knochen. Kinder- und Jugendliteratur stand unter Ideologieverdacht, will sagen: unter dem Verdacht, die kritisierten tradierten bürgerlichen Werte zu reproduzieren und zu stützen. Die ideologiekritische Haltung etablierte freilich wieder eine ideologische Position: Kinder- und Jugendliteratur hatte von nun an, im Dienst der antibürgerlichen Kritik, soziales und gesellschaftliches Problembewusstsein zu zeigen.

Das vorliegende Buch bemüht sich zwar darum, die überkommen Vorstellungen zu verändern, doch ist zu fragen, ob hier der Teufel nicht mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Die Autorin gibt sich im ersten Großkapitel viel Mühe, mit philologischer Gründlichkeit die Vernachlässigung der Kinder- und Jugendliteratur durch die Literaturgeschichtsschreibung nachzuweisen, und bestätigt so verdienstvollerweise den ohnehin vertrauten Eindruck. In einem zweiten Schritt werden zahlreiche Definitionen von Kinder- und Jugendliteratur präsentiert und Kriterien vorgestellt, mit denen man beurteilen können soll, welches Kinderbuch das Zeug zum Klassiker hat, also zu verschiedenen Zeiten von Personen unterschiedlichen Hintergrundes als Literatur goutiert werden kann. Die folgenden Beispielanalysen dienen dazu, die Bedeutung der vorgestellten Kriterien zu bestätigen. Der solchermaßen postulierte "Wandel in der Bewertung von Kinderliteratur" betrifft die verstärkte Konzentration auf die Wahrnehmung ästhetischer Qualitäten.

Zu fragen ist erstens, ob hier nicht zahlreiche Scheingefechte gefochten und Türen eingerannt werden, die seit den 70er Jahren offenstehen. Das Grundproblem - die mangelnde Wahrnehmung der ästhetischen Qualitäten von Kinder- und Jugendliteratur - haben schon Forscher wie Maria Lypp seinerzeit formuliert. Einen "Prozess einer 'heimlichen' Kanonisierung von Kinderliteratur" gibt es schon immer und er ist auch gar nicht heimlich. Seit Entwicklung der Grundlagen unserer heutigen Literaturauffassung wurden kinderliterarische Texte gelesen, geschätzt und kanonisiert, Kümmerling-Meibauer weist später selbst auf solche Texte hin, etwa auf E. T. A. Hoffmanns Märchen "Das fremde Kind" und "Nußknacker und Mausekönig".

Zweitens wird der Versuch der Neupositionierung von Kinder- und Jugendliteratur mit fragwürdigen Mitteln unternommen. Ein Beispiel tautologischer Formulierungskunst ist folgender Satz: "Der Musterkanon enthält die literarischen Meisterwerke einer National- und Weltliteratur, die oft auch als Klassiker bezeichnet werden. Die Kanonisierung von Literatur ist dabei ein wesentlicher Schritt bei der Auswahl von Klassikern." Hier bricht sich zudem ein fröhlicher Kanonoptimismus Bahn, der die komplexe Problematik der Kanonbildung mit der Notwendigkeit zur Kanonbildung beiseitigt zu haben glaubt. Die Folge sind hochgradig anzweifelbare Urteile, etwa über den "Trotzkopf" Emmy von Rhodens, ein Mädchenroman, dem an Merkmalen wie "natürliche Schönheit, Frische, Jugendlichkeit, Bescheidenheit" erstaunlicherweise die Aufwertung der Mädchenrolle bestätigt wird (obwohl damit doch nur das traditionelle Rollenverhalten fortgeschrieben wird), oder über Erich Kästner: "Kästner gehört nicht zum Hochliteraturkanon, er hat als einer der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit allenfalls den Status eines sekundären Autors und könnte dadurch in einen Subkanon aufgenommen werden." Warum ist Kästner dann in Leselisten und Literaturgeschichten fast immer vertreten? Wie erklärt sich die in den letzten Jahren stark zunehmende positive Beschäftigung der Forschung mit diesem Autor? Wieso ist ein Autor der Neuen Sachlichkeit nicht kanonfähig? Auch Brecht und Tucholsky lassen sich dazu zählen - abgesehen davon, dass alle, auch Kästner, für sich die Bezeichnung neusachlich abgelehnt haben. Kurz: Wer so unreflektiert solche Werturteile fällt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er überhaupt die Kompetenz besitzt, verbindlich Aussagen über Kanonisierbarkeit machen zu können. Die falsche Argumentation setzt sich fort, wenn es um Kästners Roman "Fabian" geht: " In 'Fabian' sucht die Hauptfigur absichtlich Orte und Leute auf, die von der Öffentlichkeit gemieden werden." Dabei ist Fabian ständig mittendrin im gesellschaftlichen Leben, besucht Nachtlokale, Cafés und einen Jahrmarkt, geht in die Universität und aufs Arbeitsamt oder steht in Menschenmengen auf der Straße.

Die Ausführungen zur Methodik der vorliegenden Studie bestätigen drittens den Eindruck, dass hier wieder einmal aus der Not fehlender methodischer Fundierung heraus mit dem Begriff der Kulturwissenschaft gewedelt wird. Was, bitteschön, ist ein "kulturwissenschaftlich orientierter Beitrag zur historischen Kanonforschung"? Das vorliegende Buch ist es nicht, es sei denn, Kinderliteratur ist Gegenstand der Kultur- und nicht der Literaturwissenschaft, was allerdings dem Versuch der ästhetischen Aufwertung des Gegenstandsbereichs widersprechen würde. Was man hier findet, sind gattungstypologische und literarhistorische Überlegungen.

Solche und andere Übertreibungen sind nervig und manchmal auch etwas peinlich - immer dann, wenn Kümmerling-Meibauer auf die außerordentliche Leistung des von ihr herausgegebenen Lexikons "Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur" hinweist (und die teils grundsätzliche Kritik daran nicht erwähnt) oder sich selbst in der dritten Person zitiert, etwa: "Das hat Kümmerling-Meibauer mittels der Analyse von vier Bilderbüchern [...] veranschaulicht." Im Register ist die Autorin nicht zufällig, neben Joachim Heinrich Campe und noch vor Goethe, führend in der Zahl der Nennungen. Man darf das Buch mit der beruhigenden Gewissheit zuklappen, dass es in weiteren Aufsätzen und Monographien der Autorin weiterleben wird.

Titelbild

Bettina Kümmerling-Meibauer: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
352 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-10: 347601942X

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