Erfahrung und ästhetische Neugierde

Ein Sammelband zu Konzepten der "Curiositas" in Mittelalter und Früher Neuzeit

Von Barbara LeupoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Leupold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer vsz misszt hymel, erd, vnd mer

Vnd dar jnn suocht lust, freüd, vnd ler

Der luog, das er dem narren wer

(Sebastian Brant, "Das Narrenschiff")

'Curiositas', die Neugierde, beschäftigt seit Jahrtausenden kluge Köpfe. Von Augustinus als 'Sünde' der concupiscentia oculorum gebrandmarkt gilt sie Hans Blumenberg "als eine[r] der Motivationen des wissenschaftlichen Prozesses" ("Der Prozeß der theoretischen Neugierde", 1973). Der Begriff fasst "ein ebenso facettenreiches wie heterogenes Spektrum von menschlichen Wissensansprüchen, Erkenntnisinteressen und Erfahrungsbedürfnissen". Beim 15. "Göttinger Gespräch zur Geschichtswissenschaft" stand das Phänomen zur Diskussion. Die Resultate liegen gedruckt im 15. Band der zugehörigen Reihe vor. In interdisziplinärer Perspektive befassen sich ein Kunsthistoriker, zwei Literaturwissenschaftler und eine Wissenschaftshistorikerin mit der 'Curiositas', die seit Blumenberg als "Kennwort für den Aufbruch der frühen Neuzeit aus mittelalterlichen Denk- und Lebensordnungen" (Jan Dirk Müller) gilt. Die Wurzeln lassen sich aber, so Krüger, "in sehr komplexen Verästelungen und Kontinuitätssträngen weit in die vorneuzeitliche Epoche zurück" verfolgen. Historisch ist das nicht "im Sinne einer linearen oder gar teleologisch bestimmten Entwicklung" zu begreifen, sondern als Resultat verschiedenartiger Prozesse. "Solche Prozesse und ihre Dynamik aus der Blickwarte unterschiedlicher Disziplinen zu beleuchten, war die Aufgabe" in Göttingen. Die Auseinandersetzung mit Blumenberg ist dabei stets präsent.

Jeffrey F. Hamburger erörtert theologische Diskurse um Bilder und ihre Funktionen sowie die Rolle der Curiositas als sehendes Erfassen im Kontext des menschlichen Erkenntnisstrebens in Bezug auf Gott. "Images, however, had too central a place in Christian practice to be universally condemned." Dennoch galt einigen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts das menschliche Streben, religiöse Mysterien abzubilden, als zum Scheitern verurteilt, als vergeblich und als anmaßend. In der spätmittelalterlichen Naturtheologie und Mystik wird eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtung fassbar - und zwar interessanterweise unter Bezugnahme auf dieselben Bibelstellen. Hamburger gelingen mit der parallelen Analyse identischer Phänomene in verschiedenen Epochen interessante Einblicke in eine heterogene Rezeptionsgeschichte. In sakralen Zusammenhängen fungierte selbst das kunsthandwerklich geschaffene Bild als Vermittler zwischen Visibilia und Invisibilia. Die Reformatoren verwarfen diese sakrale Überhöhung. Mehr noch, sie griffen viel grundsätzlicher an: "Luther severs the sacramental ties between the visible and the invisible."

Christian Kiening richtet den Blick auf europäische Versuche im 16. Jahrhundert, sich die neu entdeckte Welt im Westen anzueignen, sie zu erfassen und einzuordnen. Das geschah zunächst unter Rückgriff auf stereotype Vorstellungen abendländischer Tradition, autoritative Normvorstellungen, Klischees und rhetorische Muster. Das Erfahrungswissen erfuhr eine ambivalente Bewertung. Vorbehalte gegenüber dem Unbekannten bestanden auch im 16. Jahrhundert, dennoch faszinierten die neuen Welten. Deren Einordnung in handfeste Machtinteressen erforderte mehr und mehr ein Systematisieren und die Anwendung mimetischer Praktiken. Reiseberichte aus Brasilien, das sowohl als Ressourcenlieferant als auch als "potentieller Lebensraum" für die Europäer attraktiv war, hatten vor diesem Hintergrund "zumindest ansatzweise die fremde Kultur systematisch zu erfassen, zu ordnen, als komplexes Ensemble zugänglich zu machen". Kiening konstatiert eine "archaische Form theoretischer Neugierde", Curiositas gewinne zumindest eine Reflexionsebene. Der Autor bespricht zur Illustrierung seiner theoretischen Erwägungen ausführlich - allerdings ohne die Realien konsequent an die Theorien rückzubinden - drei Brasilien-Reiseberichte aus der Mitte des 16. Jahrhunderts in ihrer jeweils spezifischen "Versuchsanordnung" im festen Rahmen der Chronologie von Ausfahrt und Heimkehr: "In jedem der Texte koexistieren alte und neue Wissensformationen, [...] treffen Erfahrung und Tradition, Diskontinuität und Kontinuität aufeinander".

Niklaus Largier untersucht den von Giordano Bruno entwickelten philosophischen Stil der Intervention, der angesichts der Pluralität und Differenz der Dinge zuallererst die "Freiheit des Blickes" fordert. Bruno zieht die Exempelfigur des Diogenes von Sinope heran, die in einem langen Prozess seit dem Altertum über das Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein die "Wende vom exemplum virtutis zum Exemplum philosophischer Neugier" durchläuft. Largier nennt den philosophischen Stil, für den der Kyniker zum Emblem wird, einen "Gestus der Aufklärung", nach dem nicht einfach eine Wahrheit durch die andere Wahrheit zu ersetzen ist, sondern nach dem Gemeinplätze, ungeprüft übernommene Standpunkte durch geradezu torpedierende Provokation immer auf's Neue zu hinterfragen sind. Verbunden ist dieser Gestus mit Nomadentum, kosmopolitischer Erfahrungsbereitschaft, die auch im Denken Paracelsus' eine zentrale Rolle spielt. Welterfahrung, Wanderschaft und das Erfassen durch den Sehsinn sind "Prinzip einer neuen Form der Wissensbildung". Die Neugier wird in diesen Zusammenhängen nicht verurteilt, im Gegenteil: sie ist "konstitutiv für die erfahrungshafte Vernunft". Wurzeln dieser Zuordnung der Diogenesfigur zu einer Rhetorik des freien Blickes und Welterfahrung lassen sich, bereits vor Bruno, im 14. und 15. Jahrhundert beschreiben. Als Konsequenzen benennt Largier "Methodenpluralität" und "Studium möglichst verschiedener philosophischer Systeme".

Lorraine Daston fragt zu Beginn ihres Beitrages über "Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft": "Was hat es mit der für die frühe Neuzeit vielfach beschworene [sic!] Emanzipation der Neugier auf sich?" Sie beschreibt dann ein sehr spezielles Phänomen, "eine eigene Psychologie des Wissens" im 17. Jahrhundert, deren Kennzeichen die Verbindung der "Freuden des Staunens über und der Neugier an Naturphänomenen" sei. Das Phänomen habe keine Vorläufer in mittelalterlicher Tradition und keine Nachfolger in der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund findet Dastons Auseinandersetzung mit Blumenberg statt: "[D]er Wille zum Wissen in der Antike, dem Mittelalter und der Frühmoderne [kann nicht] in einer umfassenden Geschichte der 'Neugierde' zusammengefasst werden", denn dieser sei jeweils in erster Linie abhängig von seinen spezifischen Objekten. Wichtig seien zudem die "Begriffe, die diesen Willen beschrieben", und der "Kontext, in dem dieser gelobt bzw. verurteilt wird". Ein solcher Emanzipationsprozess der Neugier dürfte nur schwerlich stringent darzustellen sein.

Dastons Beitrag betreibt neben der Betrachtung eines wissenschaftshistorisch interessanten Phänomens des 17. Jahrhunderts geradezu paradigmatisch eine produktive Auseinandersetzung mit Blumenberg. Es klingt darüber hinaus die - offensichtlich immer zu stellende - Frage nach dem Nutzen von "Neubegierden" an, und zwar anhand jener Kritik, die im 17. Jahrhundert wieder für das Verschwinden des beschriebenen Phänomens sorgte: Es gibt stereotype Vorwürfe, aber es gibt auch Kritik, die im einen oder anderen Fall sicher berechtigt nach dem Sinn der theoretischen Neugierde fragt - Sebastian Brant grüßt aus der Ferne.

In seinem Ensemble thematischer Ausrichtungen und Konzeptionen kann der Band trotz seines geringen Umfangs als anregende Ergänzung, Erweiterung und auch Einwand zur Monographie Blumenbergs gelesen werden. Facettenreichtum und Heterogenität von Wissens- und Erkenntnisinteressen sowie deren Bewertungen in unterschiedlichen Kontexten aus der Perspektive verschiedener Fachdisziplinen finden lebendigen Ausdruck. Jeder einzelne Beitrag ist eine Momentaufnahme - sowohl aus der abendländischen Kulturgeschichte als auch aus modernen Wissenschaftsdisziplinen. Die Disparität läßt sicher Unbehagen zurück. Die in Göttingen gestellte Aufgabe wurde im interdisziplinären Verbund trotzdem überzeugend gemeistert. Wie schon im Titel angedeutet, wird gerade in der Heterogenität der Gegenstände deutlich, dass Mittelalter und Frühe Neuzeit schwerlich durch eine einschneidende Epochenzäsur getrennt voneinander zu betrachten sind. Auch die "Emanzipation der Neugier in der Frühen Neuzeit" kommt hierfür aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in Betracht.

Titelbild

Klaus Krüger (Hg.): Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit. Mit Beiträgen von Lorraine Daston, Jeffrey F. Hamburger, Christian Kiening, Klaus Krüger und Niklaus Largier.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
182 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3892445222

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