Blicke auf Venedig

Louis Begleys und Anka Muhlsteins Liebeserklärung an das reale und das literarische Venedig

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die außerordentliche Topographie und die eigentümliche Schönheit Venedigs üben seit Jahrhunderten einen fast magischen Reiz auf die Literatur aus, der sich wohl nur noch mit der Wirkung Roms vergleichen lässt: Venedig mit seiner Lage zwischen Land und Meer, dem labyrinthischen Gewirr der Gassen und dem unaufhaltsamen Verfall der prächtigen Bauwerke aus einer vergangenen, politisch glanzvollen Zeit stiftete eine literarische Tradition, an der so unterschiedliche Schriftsteller wie Byron, Platen, Thomas Mann, Hofmannsthal, Rilke, Peter Rosei oder Brodsky (um nur einige zu nennen) mitschrieben und die bis heute andauert. Daher ist Venedig schon lange nicht mehr nur ein realer Ort, der jedes Jahr eine Masse von Touristen anzieht, sondern auch ein literarischer, sozusagen sprachgesättigter Ort - hier klingen die Echos der Intertextualität besonders laut und vielstimmig.

Louis Begley ist sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst, die sich aus dieser Traditionsmächtigkeit der Venedigliteratur ergeben: Was lässt sich noch Neues sagen über Venedig, und wie kann man vor den großen literarischen Vorbildern bestehen? Offensiv beruft er sich daher zu Beginn desjenigen Essays, der das vorliegende Buch über Venedig beschließt, auf Henry James, der sich schon wesentlich früher mit diesem Problem konfrontiert sah: "Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man dorthin reist. Schlagen sie das erstbeste Buch auf, und sie werden eine Rhapsodie über Venedig finden [...]. Jeder weiß, dass es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen gibt." Dennoch war die Anziehungskraft von 'La Serenissima' für James offensichtlich zu groß, um ihr widerstehen zu können, situierte er doch zwei seiner überzeugendsten Texte in Venedig, nämlich "Asperns Nachlaß" und "Die Flügel der Taube". Ganz im Sinne dieses Vorbilds lässt auch Begley alle Bedenken beiseite und fügt dem Teppich der Venedigliteratur erneut ein weiteres Stück hinzu. Schon für seinen Roman "Mistlers Abschied" wählte Begley Venedig als Handlungsort, und stellvertretend für seine eigene Liebe zur Stadt lässt er seinen Protagonisten formulieren: "Venedig ist der einzige Ort auf Erden, an dem mich nichts stört."

Kaum anders wird es wohl Begley und seiner Frau, der Historikerin Anka Muhlstein gehen, die seit über zwei Jahrzehnten jedes Jahr zwei Wochen in Venedig verbringen, um sich vom Stress des New Yorker Lebens zu erholen. Von ihrer großen Zuneigung zu dieser außerordentlichen Wasserstadt zeugt jetzt der gemeinsam konzipierte Band, der unter dem Titel "Venedig unter vier Augen" in der Marebibliothek des Marebuchverlags in einer schönen Ausgabe vorliegt. Das Buch bindet vier recht unterschiedliche Textstücke zusammen, nämlich eine Erzählung, einen autobiographischen Bericht aus dem heutigen venezianischen Leben, eine private Bildstrecke und einen Essay.

Den Auftakt bildet die Erzählung "Der Königsweg nach Venedig" von Begley: Ein junger Mann reist kurz nach seinem glänzend bestandenen Examen in die Lagunenstadt, um dort endlich der angebeteten Lilly das "Opfer [s]einer Jungfräulichkeit" zu bringen. Dazu kommt es dann zwar nicht - Lilly verweigert sich dem Ich-Erzähler, da sie die 'Freundschaft' zu ihrem Verehrer nicht riskieren möchte - dafür gewinnt er jedoch eine andere, lebenslange Freundschaft; der "lange aufgeschobene Geschlechtsverkehr" mit Lilly wird dann viele Jahre später nachgeholt. In gewohnt souveräner Manier erzählt Begley diese Geschichte, doch hätte der Erzählung eine etwas stärkere Konzentration auf das zentrale Moment der Zurückweisung gut getan. Dadurch, dass die erzählte Zeit sich über mehrere Jahre erstreckt, verläuft die Spannungskurve relativ flach und bleiben die einzelnen Charaktere etwas blass - manchmal wirkt es fast, als würde hier nur die Kurzfassung eines Romans vorgestellt.

Im zweiten Teil des Buches liefert Anka Muhlstein ihre ganz privaten "Schlüssel zu Venedig", d. h. sie beschreibt, wie sie und ihr Mann alljährlich ihre Zeit in Venedig verbringen. Diese Schlüssel sind für sie vor allem die exklusiven Restaurants, in denen die Begleys im Laufe der Jahre Stammkunden wurden. Muhlstein versteht es dabei, die Schilderungen ihres privaten (Urlaubs-)Alltags geschickt mit den Geschichten der Restaurantbesitzer zu verbinden und so immer wieder Einblicke in das venezianische Leben und in den lebensfrohen Charakter seiner Bewohner zu geben - allerdings mag dem Leser gelegentlich ein etwas unangenehmer Beigeschmack entstehen, weil ihre kulinarischen Berichte nicht immer frei von einer gewissen Eitelkeit sind, von einem Gefallen daran, zu einem exklusiven Kreis dazuzugehören, aus dem die gewöhnlichen Touristen ausgeschlossen bleiben.

Ist die Balance des Bandes aus literarischen und autobiographischen Teilen bis hierhin noch gelungen, so verliert er nun diese Ausgewogenheit. Zunächst folgt auf die Restaurantgeschichten ein kleines "Photoalbum" mit privaten Schnappschüssen, die nicht nur Begley und seine Frau zeigen, sondern auch seine Söhne, Schwiegertochter und Enkel, Photos, die wohl kaum einen Leser interessieren dürften. Abschließend widmet sich Begley sodann in einem "Venedig und Romane" überschriebenen Essay der Frage, ob die für sein Bild von Venedig und seine eigenen literarische Entwicklung zentralen Venedigtexte von James, Proust und Thomas Mann auch in anderen Städten spielen könnten, ohne dass sich Wesentliches an den erzählten Welten ändern würde, oder ob die Lagunenstadt Venedig mit ihren einzigartigen Charakteristika nicht gerade konstitutiver Bestandteil der jeweiligen literarischen Mikrokosmen sei. Wenig überraschend (und übrigens auch nicht neu) ist Begleys weniger argumentativ als vielmehr mittels einer Reihe von Zitaten belegte Erkenntnis, dass die Venedigbilder durchaus integrale Bestandteile der Texte sind, die eben nicht beliebig gegen andere Stadtbilder ausgetauscht werden könnten. Dass etwa Venedig von Thomas Mann "zur Illustration von Aschenbachs moralischem Niedergang" genutzt wird, musste zumindest in dieser allgemeinen Form nicht noch einmal vorgeführt werden. Wenn auch Begley sicherlich nicht den Anspruch verfolgt, literaturwissenschaftlich Neues zu präsentieren, so fällt er doch auch für einen Essay dieser Art zu weit hinter das hinlänglich Bekannte zurück. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das Buch "Paradoxien der Fiktion" von Angelika Corbineau-Hoffmann, eine exzellente thematologische Studie zur Venedigliteratur, die auch zu den von Begley vorgestellten Werken luzide Analysen bereitstellt.

Seine Ausführungen sind aber dennoch über weite Strecken unterhaltsam zu lesen. Lediglich der Schluss des Essays ist ein wenig unerfreulich: Begley kann nämlich nicht darauf verzichten, dem Leser die Bedeutung Venedigs für seinen Roman "Mistlers Abschied" zu erläutern. Zwar wehrt er kurz den Gedanken ab, dass er sich derart in eine Reihe mit den zuvor behandelten Werken und Autoren stellen möchte, doch kassiert er diesen Vorbehalt durch nicht sonderlich bescheidene Formulierungen dann sofort wieder ein, wie z.B.: "Venedig habe ich in einer Proust nicht ganz fremden Art verwendet."

Trotz all dieser Einwände gegen einzelne Teile und Passagen des Buches ist es dem Ehepaar Begley/Muhlstein aber dennoch gelungen, eine insgesamt abwechslungsreiche, kurzweilige Hommage an Venedig vorzulegen, die sowohl Kenner der Stadt ansprechen als auch ein interessantes Nebenwerk für Begley-Leser sein dürfte, die hier diverse Details aus dem Arbeitsalltag (bzw. Urlaub) des Schriftstellers erfahren sowie einige Einblicke in Begleys poetologische Prinzipien nehmen können.

Titelbild

Louis Begley / Anka Muhlstein: Venedig unter vier Augen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen und Französischen von Christa Krüger und Grete Osterwald.
Mare Verlag, Hamburg 2003.
168 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 393638407X

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