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Alexander Osang erzählt mitfühlend vom Leben des deutschen Durchschnittsbürgers zwischen 30 und 45

Von Bettina LaudeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Laude

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Feiertag naht. Meistens Heiligabend, zur Abwechslung auch mal Karfreitag oder Ostersonntag. Die Helden in Osangs Erzählband "Lunkebergs Fest" müssen sich durch Familientreffen, Freundesbesuche und andere Geselligkeiten manövrieren. Das ist die Klammer, die die elf Erzählungen zusammenhält. Dabei haben die Feiertage mal handlungauslösende Funktion, etwa wenn Karrierefrau Andrea am Weihnachtsabend heim fährt in ihr Elternhaus und dort "Der neue Mann" ihrer Mutter sitzt, mal sind sie bloße Kulisse, und die bemitleidenswert normalen Protagonisten könnten auch an einem x-beliebigen Tag mit ihrem mehr oder weniger vermurksten Leben konfrontiert werden. Wie der Versicherungsangestellte Jürgen Eckert, 43, der am Osterwochenende in einem Reisebus sitzt und durch Rumänien zuckelt. Hinter ihm liegen verregnete und öde Tage in Griechenland, vor ihm eine leere Wohnung und ein langweiliges Leben in Berlin. Seine Frau hat ihn gerade verlassen, weil er "seit zehn Jahren auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Für Kinder, für Reisen, für Umzüge." Nur dass der richtige Zeitpunkt nicht kommen mag und Frau Eckert das Warten leid ist. Dieser unschlüssige Herr findet nun durch Zufall eine Pistole in der Bus-Toilette - und beschließt, sich überhaupt mal zu irgendetwas zu entschließen: Er entführt den Bus. Der aus Eckerts Perspektive nun wie "Das Totenschiff" - so der Titel der Eröffnungserzählung - über die Landstraßen gleitet.

In "Die Puppe" ist der Ostersonntag nur der Anlass für den Ich-Erzähler Kamulski, ein befreundetes Paar zu einem üppigen Brunch einzuladen, der sich bis in die Nacht zieht. Und der die Möglichkeit gibt, alles vorzuführen, was zum guten Leben des Großstädters gehört: die bei der Toskana-Fraktion abgeguckte Lebensart und das intellektuelle Gehabe.

Menschen beobachten, ihren Alltag einfangen und trotzdem etwas Besonderes darin entdecken, das kann Alexander Osang. Dabei geht der langjährige Journalist (bis 1999 Chefreporter der "Berliner Zeitung", seitdem Amerika-Korrespondent des "Spiegels") liebevoll mit seinen Protagonisten um. Schon dreimal wurden Osangs Reportagen mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet, dem deutschen Oscar für Journalisten. "Lunkebergs Fest" ist sein erster Erzählband. In die jeweils elf bis 18 Seiten kurzen Geschichten hat Osang viele Erfahrungen aus seiner Berliner Reporterzeit eingeflochten. Zugleich klingt aber auch die amerikanische Short Story mit ihrem gedrängten Realismus an. Fast alle Erzählungen spielen in oder um Berlin, die erzählte Zeit reicht von den frühen Neunzigern bis Ostern 2003. Aus der personalen Perspektive berichtet ein Er-Erzähler (einzige Ausnahme: der Ich-Erzähler in "Die Puppe) von der Diskrepanz zwischen Wunschbild und Wirklichkeit der unspektakulären Figuren. Um dieses Auseinanderklaffen deutlich zu machen, hat Osang wohl die Feiertags-Konstruktionen gewählt. Verklärte Kindheitserinnerungen, romantische Sehnsucht und der Traum vom geborgenen Leben kommen Weihnachten alljährlich an die Oberfläche. Es gibt wohl kein Lied, das diese Gefühle so sehr auf den Punkt bringt, wie White Christmas, gesäuselt von Bing Crosby. Und genau dieses Lied lässt Osang seine Figuren dauernd hören. Es schallt ihnen aus dem Radio entgegen, sie legen es selbst auf, um die Realität zu überlisten und doch noch ein wenig vom Zauber in die schicken Berliner Altbauwohnungen oder gutbürgerlichen Einfamilienhäuser zu holen.

Überhaupt hören die Figuren dauernd Musik. Elton John, Bloodhound Gang, Electric Light Orchestra, Dire Straits, Frank Sinatra: Du bist, was du hörst. Nach diesem Grundsatz webt Osang Liedtexte in den Erzähltext. Liedzeilen und Image der jeweiligen Interpreten kommentieren die Figur, die die Musik hört und sich mit ihr identifiziert. Auf die Spitze treibt Osang dieses Verfahren in der Titelerzählung "Lunkebergs Fest". Der 31-jährige Frank Lunkeberg, Referent im Berliner Innensenat, muss mit zwei lose bekannten Paaren Weihnachten feiern. Seine Freundin hat die unerwünschten Gäste eingeladen. Er versteckt all seine Lieblingsplatten - Peter Maffay, BAP - im Kühlschrank, weil er glaubt, dass sein Musikgeschmack nicht cool genug sei. ("Was war eigentlich mit Heinz Rudolf Kunze? Durfte man den haben? Lunkeberg hätte sich am liebsten vor seinen CD-Schrank gestellt. [...] Die Stephen-King-Bücher standen in der Besenkammer. Zusammen mit dem Keith-Haring-Poster. Er hoffte, dass er nichts übersehen hatte.") Stattdessen legt er Pearl Jam und ACDC auf. Damit gehöre er zur Geschmacks-Avantgarde, hofft Lunkeberg. Er serviert italienische Feinkost statt Weihnachtsbraten, Prosecco statt Verdauungsschnaps. Und alles nur, weil Lunkebergs Freundin möchte, dass er interessanter wirkt, als er ist.

Das Aufzählen von Markennamen und Bands kennen aufmerksame Leser schon zu genüge von den sogenannten Pop-Literaten. Osang überhöht die banale Aufzählerei aber durch das erzähltechnische Mittel des Perspektivwechsels. Der Leser erlebt Lunkebergs Weihnachtsfest nacheinander aus den Perspektiven aller männlichen Figuren. Und zum Schluss aus dem Blickwinkel einer Figur, mit der niemand gerechnet hat. Ein Verfahren, das die ganze Hohlheit von Lunkebergs Bemühungen aufdeckt. Und zeigt, dass in vielen von uns ein kleiner Lunkeberg steckt.

Gerade diese Erzählung nähert sich am meisten dem Genre der Short Story an. Sie ist kunstvoll durchkomponiert, alles ist aufs Ende hin ausgerichtet, die Sprache massentauglich. Andere "Erzählungen" sind leider nur verlängerte Reportagen. Dafür aber gute.

Titelbild

Alexander Osang: Lunkebergs Fest. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
173 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3100576128

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