Frauen als Ernährungsopfer

Helena Janeczeks Roman "Essen"

Von Ingrid IcklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingrid Ickler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Danielas Form der Krankheit ist "unauffällig": Sie erbricht sich nicht nach einem Fressanfall, sondern hungert sich die Kalorien durch Stunden im Fitnessstudio und Fasten wieder herunter.

Der Klappentext dieses im Herbst 2003 bei Kiepenheuer und Witsch erschienenen Romans führt in die Irre: Hier geht es keineswegs nur um die "symbiotische Beziehung zwischen Frauen und Essen" oder um das Essen an sich. Helena Janeczeks stark autobiografisch gefärbter Roman erzählt vielmehr die Geschichte einer Kindheit zwischen Deutschland und Italien, des Aufwachsens in einem jüdischen Elternhaus und des frühen Verlusts des Vaters. In einer leichten, poetischen Sprache entführt die Autorin ihre Leser ins Italien der fünfziger und sechziger Jahre. In dieser Zeit erlebt sie das Essen als Genuss; mit vielen Gerichten verknüpfen sich besondere Erinnerungen, die ebenso plastisch wie liebevoll geschildert werden. Erst mit zunehmendem Alter beginnen ihr Körper und das Essen zum Problem zu werden.

Die Handlung setzt mit dem (zum wiederholten Male gefassten) Entschluss der Ich-Erzählerin ein, zehn Kilo abzunehmen. Damit die Diät endlich den gewünschten Erfolg bringt, vertraut sie sich dieses Mal Daniela an, Kosmetikerin, Masseurin und Expertin auf dem Gebiet des "Diätens". Während ihrer wöchentlichen Treffen freunden sich die beiden Frauen an und tauschen ihre Erfahrungen über Essen, Diäten, Männer, Sport und die vergeblichen Versuche aus, die eigenen Körperformen zu akzeptieren. Dabei stellt sich heraus, dass Daniela Bulimikerin ist. Und erst als die Ich-Erzählerin mit ihrer Diät fast am Ende ist, gelingt es Daniela sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen und ihre Essstörung in den Griff zu bekommen.

"Essen" ist keine Betroffenheitsliteratur. Helena Janeczek vermeidet psychologische Ursachenforschung, vielmehr macht sie sich auf die Suche nach dem verlorenen Genuss ihrer Kindheit. Ist lustvolles Essen überhaupt noch möglich oder ist Nahrung heute nur noch ein Instrument? Muss das Thema "Essen" für Frauen zwangsläufig problematisch sein? Die Antwort muss sich jeder Leser nach der Lektüre selbst geben, und gerade das ist die Stärke dieses Romans. Er macht nachdenklich, weckt eigene "genussvolle" Erinnerungen und trägt dazu bei, die eigene Beziehung zum Idealmaß und der Lust am Essen zu überdenken. Dazu dient wohl auch der "moralische Epilog" mit dem Titel "Bloody cow", der sich mit dem (Wahn-) Sinn des Rinderwahnsinns auseinander setzt.

Titelbild

Helena Janeczek: Essen. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Elisa Kellner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
282 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462033328

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