Schülerinnen und Schüler schreiben Literaturkritiken

Ein Unterrichtsprojekt in einem Leistungskurs Deutsch (13. Jahrgang) am Gymnasium Kronshagen bei Kiel

Von Rainer Paasch-BeeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Paasch-Beeck

Wenn in deutschen Schulen "Gegenwartsliteratur" behandelt wird, verstehen viele Lehrkräfte darunter Texte von Dürrenmatt, Frisch, Brecht und vielleicht noch Günter Grass und Christa Wolf. Die Chance, dass die Schülerinnen und Schüler Romane von Autorinnen und Autoren kennen lernen, die nach 1950 geboren sind, ist immer noch sehr klein. Die Beschäftigung mit aktueller "Gegenwartsliteratur", d. h. also solchen Texten, die wirklich gerade erschienen, in die Buchhandlungen ausgeliefert worden und auf den Tischen der Kulturredaktionen gelandet sind, war daher ein Hauptziel des Projektes.

Im Mittelpunkt des auf zwölf Schulstunden angelegten Unterrichtsversuches stand aber die Bewertung von Literatur und die Erarbeitung der dafür hilfreichen Kenntnisse und Fähigkeiten. "Lernziele" waren dabei zum einen die Erarbeitung von Kennzeichen und Entstehungsbedingungen der Textsorte "Literaturkritik" und zum anderen - als Abschluss des Projektes - die Anfertigung einer eigenen "Literaturkritik" zu einem selbst ausgewählten Roman.

Die Schülerinnen und Schüler konnten aus einem von Lehrerseite zusammengestellten "Kanon" von zwölf Romanen denjenigen auswählen, der sie besonders interessiert hat. Kriterien für die Auswahl waren neben dem Grad der Aktualität (Ausnahme: der Roman "Ein schnelles Leben" von Zoe Jenny) ein angenommenes Interesse auf Schülerseite, ein nicht zu großer Umfang (höchstens 200 bis 250 Seiten) sowie die sprachliche Herkunft. Neben zehn deutschsprachigen Romanen konnten die Kursteilnehmer auch zwei Romanübersetzungen aus dem Amerikanischen wählen.

Eine nicht zu unterschätzende Hürde bei der Beschäftigung mit aktueller Literatur, der hohe Preis, konnte durch die z. T. großzügige Unterstützung einiger Verlage genommen worden.

Am Anfang des Projektes stand die Erfahrung, dass die meisten Schülerinnen und Schüler bisher keine Erfahrungen mit Literaturkritiken - sei es als Leser oder Verfasser - gemacht hatten.

Eine erste Annäherung an eine unbekannte Textsorte sollte über einen Roman erfolgen, den sie alle schon kannten. Die Wahl fiel auf "Die Leiden des jungen Werther". Ausgehend von ihren ersten eigenen "naiven" Rezensionen sowie der Beschäftigung mit zeitgenössischen und modernen "Werther"-Rezensionen erfolgte eine systematische Erarbeitung grundlegender Kriterien für die Abfassung bzw. den Aufbau einer Literaturkritik (als sehr hilfreich erwiesen sich dabei der auch durch literaturkritik.de zur Verfügung gestellte Beitrag "Literaturkritik" von Thomas Anz und das "Kleine Lexikon der Literaturkritik" von Oliver Pfohlmann).

Diese Vorgehensweise prägte die Arbeit des gesamten Projektes. Die Schüler konnten sich jeweils auf zweifache Weise mit der Gattung "Literaturkritik" beschäftigen. Zum einen, indem sie professionelle Rezensionen lasen, analysierten und auch bewerteten, zum anderen, indem sie immer wieder praktische Erfahrungen mit Teilaspekten machten. Das Selberschreiben und anschließende Vorstellen und Vergleichen im Kurs (von z. B. Einstiegen, Inhaltsübersichten und Bewertungen) bildete die wichtigste Vorbereitung für die abschließende selbstständige Literaturkritik.

Der Vergleich von vier ganz unterschiedlichen Rezensionen eines Romans (wegen des vergleichsweise einfachen Plots fiel die Wahl auf Siegfried Lenz' "Fundbüro") machte die Bandbreite der unterschiedlichen Formen von Rezensionen deutlich und ermöglichte den Schülerinnen und Schülern auf diese Weise eine nochmalige Gelegenheit zur Bewertung auch von Literaturkritiken.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Vorstellung und Besprechung der Schülertexte im Kurs auf die eigene Sprache, auf einen persönlichen Stil der Schüler gerichtet.

Nicht zuletzt, um die besonderen Entstehungsbedingungen der Titel von Rezensionen kennen zu lernen, rundete ein Besuch in der Kulturredaktion der örtlichen Zeitung ("Kieler Nachrichten") und ein Gespräch mit der für "Literatur" verantwortlichen Redakteurin das Projekt ab.

In der Endphase konnten die jungen Kritikerinnen und Kritiker zuerst eine fundierte Inhaltsübersicht und etwaige Besonderheiten "ihres" Buches im Kurs und in Kleingruppen vorstellen und diskutieren. Neben der Gelegenheit der Zusammenarbeit ergab sich so der positive Effekt, dass alle Schülerinnen und Schüler innerhalb des Projektzeitraumes immerhin vier - wenngleich von ihrem literarischen Anspruch her durchaus unterschiedliche - aktuelle deutsche Gegenwartsromane kennen gelernt haben. Vorläufiger Abschluss war die Aufgabe, eine Literaturkritik zu schreiben, die sich an einem Umfang von 120 Zeilen zu 30 Anschlägen orientieren sollte. Nach einer erneuten Vorstellung und Überarbeitung im Kurs und einer Besprechung mit dem Kurslehrer stand schließlich die ungeliebte Aufgabe, diese Kritik noch einmal zu überarbeiten und auf eine Länge von ca. 80 Zeilen mit 30 Anschlägen zu kürzen. Am Schluss dieses Unterrichtsversuches hatte jede Schülerin und jeder Schüler selbstständig eine Literaturkritik verfasst und abgegeben. Einige dieser Besprechungen wurden in Publikationen im Schulrahmen abgedruckt, zwei anderen gelang sogar kurz nacheinander der Sprung auf die "Bücherseite" der "Kieler Nachrichten".

Und alle zusammen stellen sich an dieser Stelle noch einmal vor.