Der Dschungel Mensch und sein finsteres Herz

Timothy Findleys Zukunftsroman "Das dunkle Herz" bringt einen Klassiker in unsere Gegenwart

Von Susanne BlümleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Blümlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"An einem Wintertag, als ein Blizzard durch die Straßen Torontos fegte, ließ Lilah Kemp versehentlich Kurtz von Seite 131 aus Herz der Finsternis frei."

Mit diesem wunderbaren ersten Satz beginnt der Autor Timothy Findley sein Spiel mit uns Lesern, angesiedelt in den Bereichen literarischer Fiktionalität, literarischer Realität und der Realität des Lesers. "Kurtz", tritt aus "Herz der Finsternis" heraus und in die literarische Realität von Lilah Kemp, in den Roman "Das dunkle Herz" ein.

"Herz der Finsternis", die Novelle von Joseph Conrad aus dem Jahre 1902, gehört zu den Klassikern, die jeder Anglist kennen und gelesen haben sollte: Es ist die Erzählung des Seemannes Marlow, der mit einem Boot den Kongo hinauf ins Landesinnere schippert, um den Händler Kurtz zu finden, der dort in einer Station haust und, wie Marlow herausfindet, dem Dschungel, dem schwarzen Herz der Finsternis, in dem er lebt, vollständig verfallen ist. Der Dschungel in den sich Marlow hineinbegibt, ist, nach gängiger Interpretations-Meinung, eine Metapher für die dunkle Seele des Menschen.

Folgerichtig transferiert Findley diese Vorlage in das Toronto einer nahen, fast schon gegenwärtigen Zukunft und siedelt seine eigene Erzählung an dem Ort an, an dem sich Menschen mit den dunklen Seiten des Menschen beschäftigen: Schauplatz von "Das dunkle Herz" ist das "Parkin-Institut für psychiatrische Forschung" und Kurtz, genauer: T. Rupert Kurtz, Dr. med., Mitglied des Royal College für Mediziner von Kanada, ist sein Direktor.

Mehrere Ärzte arbeiten in oder für diese Klinik, unter anderem Dr. Austin Purvis, der sich nicht dagegen wehren kann, dass Kurtz ihm immer mehr wichtige Patienten entzieht und Dr. Eleanor Farjeon, die eine Gruppe von Kindern betreut, denen derart Grausames angetan worden sein muss, dass sie alle einem gewalttätigen Autismus verfallen sind.

Und während Lilah Kemp noch verzweifelt versucht, entweder Kurtz zurück ins "Herz der Finsternis" zu bannen oder Marlow ebenfalls aus dem Buch heraus zu beschwören, zieht der Psychiater Dr. Charles Marlow direkt in ihre Nachbarschaft. Und damit befolgt Findley eine Regel des Erzählens, die er in "Das dunkle Herz" auch selbst beschreibt: Jeder Kurtz hat seinen Marlow. Und wenn das auch für unsere Realität nicht gelten mag, ist es doch ein anerkanntes literarisches Klischee, das selten in Frage gestellt wird: Jedes Böse hat seinen Jäger, jedes Böse braucht seinen Jäger.

So wird Dr. Charles Marlow im Geiste des Lesers bereits auf Kurtz Fährte angesetzt, noch bevor im Text davon die Rede ist. Erst als Dr. Austin Purvis, bevor er Selbstmord begeht, Marlow um Hilfe bittet und Dr. Eleanor Farjeon tot aufgefunden wird, gibt Findley Marlow den Raum zu handeln. Bei der Aufdeckung des Rätsels um die autistischen Kinder, ist Marlow gezwungen, einen Blick in die tiefsten Schwärzen menschlicher Seelen zu werfen, die ihm in seiner Zeit als Psychiater noch nicht begegnet sind.

Sowohl für Marlow als auch für den Leser wird die Erzählung zu einer Reise in die finstersten Winkel der menschlichen Seele und die am Ende aufgedeckte Verschwörung ist größer, als beide es je erwartet hätten.

Titelbild

Timothy Findley: Das dunkle Herz.
Ullstein Taschenbuchverlag, München 2000.
448 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3612650580

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